Über Finnland, Baltikum und Polen zurück nach Deutschland

Von Kirkenes kommend fahre ich nur ein paar Kilometer über die Grenze nach Finnland hinein und suche mir einen geeigneten Übernachtungsplatz unweit der nach Inari führenden Straße.

Abendlicher Besuch am Stellplatz

Am Morgen finde ich dann auf dem Handy die Nachricht, dass mein Preis-Limit für die mobile Datennutzung im Ausland von 59,50 Euro erreicht ist. Mir schwant sogleich, dass an der russischen Grenze etwas passiert sein muss. Ich rufe die Hotline meiner Telefongesellschaft an und bekomme als erstes die Frage gestellt: „Sie waren in Russland?“ Das war ich zwar nicht, aber doch immerhin dicht bis auf zwei Meter an der Grenze dran, und mein Handy hat sich von mir ungewollt und unbemerkt in das russische Telefonnetz eingeklinkt. Mein Fehler. Das hätte ich durch Ausschalten der mobilen Daten leicht verhindern können. Dumm gelaufen. Der Mann an der Hotline meint, dass ich ja froh sein könne, denn ich hätte immerhin richtig Glück im Unglück gehabt. Durch die Deckelung koste mich der Spaß ja nur die genannten 59,50 Euro. Ansonsten würden wir jetzt über satte 6.000 Euro reden. Ob das wirklich so stimmt, kann ich nicht beurteilen.

Nachdem ich akzeptiere, bis Monatsende keine Kosten-Deckelung mehr zu haben, was ich sehr explizit auf ein Aufzeichnungsgerät sprechen muss, wird die Sperre aufgehoben, und ich kann wieder telefonieren. Das damit verbundene Risiko zu tragen, traue ich mir zu, denn es ist bereits der 25. Juli, und ich werde bis Monatsende in Finnland bleiben, immer schön weit weg von der russischen Grenze.

Samen-Museum Siida in Inari

In Inari sehe ich mir das sehr ansprechende Samen-Museum Siida an. Im Inneren des Gebäudes haben die Museumsleute die Entwicklung Nordeuropas und speziell Lapplands seit der Eiszeit sehr anschaulich aus dem Blickwinkel der Samen/Lappen dargestellt, und im großen Außenbereich wird das Leben dieser Volksgruppe an Hand von hierher versetzten Holzhäusern, Zelten, Tierfallen, etc. anschaulich gemacht.

Ursprünglich waren die Samen allesamt Nomaden, die mit ihren Rentierherden umherzogen, aber dabei durchaus klar festgelegte Sommer- und Winterweidegebiete nutzten. Diese „gehörten“ quasi den verschiedenen Clan- oder Dorfgemeinschaften, die Siida genannt wurden (siehe auch Name des Museums). In der Mitte des 19. Jahrhunderts sperrte Norwegen dann seine Grenzen für die Rentierwanderungen, so dass die Samen in Norwegen, Schweden, Finnland und Russland nicht mehr zwischen ihren Sommer- und Winterweidegebieten wechseln konnten. Dies führte zu schwerwiegenden Änderungen ihrer Lebensweise. Die meisten Samen wurden in der Folge notgedrungen sesshaft, bauten Häuser von der Art, wie sie in der Außenanlage des Museums zu besichtigen sind, und gaben ihre vollnomadische Lebensweise auf.

Im 17. Jahrhundert erstreckten sich die Siida der Samen über weite Teile Nordeuropas.

Besonders interessant finde ich die im Außenbereich des Museums gezeigten Fallen für die verschiedenen Tierarten. Die Rentiere standen zwar für die Samen in jeder Beziehung im Zentrum ihres Denkens und Handelns, aber sie hatten auch einiges für die Jagd übrig. Besonders wurde dabei natürlich den Feinden der Rentiere nachgestellt. Dies sind vor allem der Wolf und in geringerem Maß der deutlich kleinere Vielfraß. Aber auch der Bär war eine beliebte Beute. Er lieferte schließlich viel Fleisch und ein warmes Fell.

Für den Wolf entwickelten die Samen verschiedene Fangtechniken. Die für mich beeindruckendste ist eine Art Reuse, in die sich der Wolf hineinzwängen kann, aus der er aber nicht mehr herauskommt.

Bärenfalle: Der Bär wird vom Gewicht der Baumstämme erschlagen.
Wolfsfalle: Der Wolf findet hinein, aber nicht mehr hinaus.

In Inari ist es noch trocken, doch auf dem weiteren Weg nach Süden setzt intensiver Regen ein, so dass ich im Laufe des Nachmittags zunächst nicht recht einsehe, warum ich schon einen Stellplatz für die Nacht suchen soll. Also fahre ich immer weiter und lande schließlich auf dem Parkplatz vor dem Deutschen Soldatenfriedhof in der Nähe von Rovaniemi, der Hauptstadt Finnisch-Lapplands. Hier sind in der Gruft unter einer riesigen Halle die Überreste von 2.495 deutschen Soldaten beigesetzt, davon 690 namentlich nicht bekannte.

Ab 1941 kämpften Deutschland und Finnland gemeinsam gegen die Sowjetunion. Die Deutschen waren für den Nordteil der finnischen Front verantwortlich, die Finnen für den Süden. Im September 1944 schloss Finnland dann einen Waffenstillstand mit der Sowjetunion und verpflichtete sich darin, die Deutschen aus Finnland zu vertreiben. Dies führte zum sogenannten Lapplandkrieg, in dem sich die bisherigen Waffenbrüder heftig bekämpften. Auf dem Rückzug hinterließen die Deutschen wie in der norwegischen Finnmark dann nur verbrannte Erde. Alle Städte und Dörfer wurden praktisch dem Erdboden gleichgemacht.

In Lappland auf dem Weg nach Süden
Deutscher Soldatenfriedhof bei Rovaniemi. Die Toten ruhen in der Gruft unter dem Boden mit den Namenstafeln.

In Rovaniemi kostet der Diesel „nur“ 2,128 Euro pro Liter. Vor ein paar Monaten hätte ich nicht gedacht, dass ich das einmal günstig finden würde. Ich mache mich an der Zapfsäule ans Werk und stelle zunächst fest, dass nur Kartenzahlung möglich ist, und zwar mit einer Deckelung bei 50 Euro. Leonis Tanks sind fast leer, und das heißt Karte einführen, PIN eingeben, Zapfpistole nehmen und nach 50 Euro wieder einhängen. Beim Versuch der fünften (!) Durchführung dieses durchaus nervenden Vorgehens meint das System „Technischer Fehler“ und die DKB später „Überweisung konnte nicht ausgeführt werden“. Warum, weiß ich nicht. Eins weiß ich aber: Ich war noch nie ein Freund der Kreditkarte, aber so langsam fange ich an, diese Form des Bezahlens zu hassen.

Den Weg komplett weg vom Bargeld hin zur Kreditkarte, den man in Skandinavien schon sehr weit gegangen ist, halte ich für sehr bedenklich, um nicht zu sagen für gefährlich. Schon nach kurzer Zeit geht der Überblick über die Finanzsituation völlig verloren, wenn man nicht außerordentlich konsequent alle Zahlungen dokumentiert. Ich selbst mache das und weiß, dass auch andere Reisende das so machen, aber dieses Vorgehen ist mit einem irren Aufwand verbunden. Und trotzdem sitzt man alle zwei oder drei Tage vor seinem Kontoauszug und fragt sich, was das denn für eine komische Abbuchung von 17,35 Euro ist, die man offenbar zu dokumentieren vergessen hat – oder die ganz einfach ein Fehler ist. Jemand, der zu der nötigen Konsequenz nicht bereit oder in der Lage ist, findet sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sehr schnell mit einem beträchtlichen Schuldenstand wieder. Millionäre ausgenommen. Die betrifft das nicht.

Das touristische Highlight von Rovaniemi ist ohne Zweifel das Arktikum. Diese Institution ist als Wissenschaftszentrum und Museum gleichermaßen aufgebaut und versucht, den Besuchern die Natur, Kultur und Geschichte der arktischen Regionen Europas nahezubringen. Und dies gelingt in hohem Maße. Voraussetzung ist allerdings, ein gewisses Maß an Zeit zu investieren. Mitternachtssonne, Polarlicht, Sami-Kultur, Lappland-Krieg, alles wird sehr anschaulich, detailliert und informativ behandelt.

Im Foyer des Arktikums
Sehr einfaches und anschauliches Modell zur Erklärung von Mitternachtssonne und dunklem Polarwinter
Hochzeitstracht der Sami
Braunbären, die ich leider in lebender Form nicht gesehen habe

Bei meiner Abfahrt vom Arktikum am mittleren Nachmittag ist es noch trocken, aber schon kurz darauf setzt heftiger Regen ein. Dieser wird so stark, dass ich irgendwann aufgebe und einen Stellplatz an einem winzig kleinen Ostseehafen südlich von Oulu ansteuere.

Am Morgen hat der Regen kein bisschen nachgelassen, was die Weiterfahrt sehr anstrengend macht. Erst gegen Mittag hat Petrus schließlich ein Einsehen. Es bleibt zwar stark bewölkt, ist aber immerhin für ein paar Stunden trocken.

In Finnland gibt es ja bekanntlich geradezu unendlich viele Seen, und zu praktisch jedem führen diverse Stichstraßen. Das Problem ist nur, dass am Ende, das heißt am Seeufer, praktisch immer ein Häuschen steht, man sich dort also auf Privatgelände befindet. Einen attraktiven und frei verfügbaren Stellplatz direkt am Seeufer zu finden, ist somit nicht ganz einfach. Ich hatte daher auf OsmAnd eingehend die Karte studiert und eine vielversprechende Gegend mit vielen Stichstraßen für meinen nächsten potenziellen Übernachtungsplatz identifiziert. Dazu fahre ich etwa 10 km von der E75 weg kreuz und quer durch den Wald Richtung Osten, um schließlich tatsächlich an einer schönen und völlig menschenleeren Bootsanlegestelle zu landen. Mein Plan hat funktioniert. Ich richte mich am Ufer häuslich ein, gehe erstmals auf der Reise genüsslich schwimmen und freue mich über den sehr angenehmen Nachmittag. Später kommen noch drei Jungs auf ihren Fahrrädern angefahren, die am Bootssteg auch ein bisschen im Wasser planschen wollen.

Mitten in der darauffolgenden Nacht wache ich auf und stelle fest, dass es draußen dunkel ist. Nicht gerade pechrabenschwarz, aber immerhin dunkel. Dieses Erlebnis hatte ich wochenlang nicht mehr.

Blick vom Steg am Übernachtungsplatz ca. 100 km nördlich von Jyväskylä, …
… und so sieht es in die andere Richtung aus.

Einige Kilometer westlich von Jyväskylä im kleinen Ort Petäjärvi befindet sich eine seit 1994 von der UNESCO als Weltkulturerbe ausgezeichnete Holzkirche, die 1763-1765 von den Bewohnern der umliegenden Höfe selbst gebaut wurde. Sie gilt als einzigartiges Beispiel nordischer Holzarchitektur. Vom Alter her nicht ganz mit den norwegischen Stabkirchen vergleichbar ist sie doch äußerst beeindruckend. Um den empfindlichen Holzfußboden zu schonen, sind alle Besucher gehalten, Textilüberschuhe anzuziehen.

Holzkirche in Petäjärvi von außen …
… und von innen

Knapp 30 km weiter westlich in Keuruu steht eine weitere alte Holzkirche aus dem 18. Jahrhundert, die noch einmal 5 Jahre älter ist als die in Petäjärvi, aber über keinen Welterbe-Status verfügt. Direkt daneben liegt ein Soldatenfriedhof für finnische Opfer des Zweiten Weltkrieges. Im vorderen Bereich ruhen die Toten, die mit der Deutschen Wehrmacht, und im hinteren Bereich diejenigen, die später im Lapplandkrieg gegen sie gekämpft haben.

Holzkirche in Keuruu
Finnischer Soldatenfriedhof neben der Kirche in Keuruu

Nach genau zwei Wochen, konkret seit dem Waschtag auf den Lofoten, suche ich in Tampere mal wieder einen Campingplatz auf. Und zwar nicht irgendeinen, sondern genau den, auf dem ich schon während meiner Studentenzeit 1973 und 1977 mit verschiedenen Freunden jeweils einen Teil meines Urlaubs verbracht habe. Lang, lang ist´s her. Seit damals bin ich bekennender Finnland-Fan. Ich bekomme einen sehr abgelegenen Stellplatz ganze 5 m vom Ufer des Pyhäjärvi entfernt, der sich erfreulicherweise eher nach einem freien Stellplatz als nach einem Campingplatz anfühlt.

Stellplatz auf dem Campingplatz in Tampere
Abendlicher Besuch

Tampere, die drittgrößte Stadt Finnlands, wurde erst 1779 auf Befehl des schwedischen Königs gegründet. 1820 – Finnland war inzwischen unter russischer Herrschaft – fand dann für Tampere ein einschneidendes Ereignis statt, als der schottische Unternehmer James Finlayson hier eine Baumwollfabrik gründete, die den Beginn einer florierenden Textilindustrie markierte. Auch heute noch dominiert das Finlayson-Areal die Innenstadt.

Im Zentrum von Tampere
Wasserfall Tammerkoski, das Wahrzeichen Tamperes. Im Hintergrund Finlayson-Areal

Interessant sind in Tampere die sehr konsequent getrennten Fahrrad- und Fußgängerwege. Jedes Mal mit Zebrastreifen, wenn ein Fußweg einen Fahrradweg kreuzt. Letztere werden für meine Begriffe erstaunlich intensiv von Elektrorollern genutzt.

Getrennte Fahrrad- und Fußgängerwege mit Zebrastreifen
Elektroroller sind das angesagte Verkehrsmittel.

Generell bemerkenswert sind auch die Hinweisschilder und Erklärungstafeln. Alle sind ausschließlich Finnisch beschriftet, und das heißt konkret, oft sehr, sehr schwierig zu interpretieren. Jedenfalls für mich. Denn Finnisch ist eine sehr besondere Sprache. Ähnlichkeiten mit anderen gängigen Sprachen sind äußerst selten, etwas frecher formuliert: Es gibt sie praktisch nicht. Restaurant heißt Ravintola, Mittagessen Lounas, Bahnhof Rautatieasema, Bäckerei Leipomo, etc. Und so ist das alles auch durchgängig beschildert.

Alles klar? Hier geht es darum, in Tamperes Vergnügungspark gerne viel Spaß zu haben, aber bitte die Corona-Regeln nicht zu vergessen.

Bevor ich in Helsinki auf die mit 123 Euro erstaunlich günstige Fährfahrt nach Tallinn gehe, besuche ich in Kauniainen, etwa 20 km von Helsinki entfernt, die Witwe Lisa meines vor zwei Jahren viel zu früh verstorbenen finnischen Freundes Mika, den ich vor fast 50 Jahren während eines Industriepraktikums bei der Firma Schlafhorst in Mönchengladbach kennengelernt habe. Mika war vielen in meinem Familien- und Freundeskreis gut bekannt und von allen gut gelitten. Er fehlt uns.

Vor der Einschiffung im Hafen von Helsinki

Nach knapp zweieinhalb Stunden ist Tallinn, die Hauptstadt Estlands, erreicht. Ich parke Leoni auf einem unbefestigten Platz direkt am Hafen und begebe mich per pedes in die nahe Altstadt. Den gesamten Nachmittag bin ich hier voller Begeisterung zu Fuß unterwegs. Ich kenne Tallinn von einem früheren Besuch bereits ziemlich gut, aber die Stadt hat nicht umsonst Weltkulturerbe-Status, ist sicher eine der schönsten Städte Europas und somit auf jeden Fall mehr als nur einen einzigen Besuch wert.

Stadtbefestigung von Tallinn
Rathaus
Rathausplatz
Russisch-orthodoxe Alexander-Newski-Kathedrale auf dem Domberg von Tallinn von außen …
… und von innen

Um die mittelalterliche Bausubstanz zu erhalten, sind jede Menge Restaurierungsarbeiten im Gange. Überall stehen Baugerüste, was die touristischen Aktivitäten an manchen Stellen etwas einschränkt. Extrem auffallend ist die Protest-Plakatierung gegen den Ukrainekrieg vor der russischen Botschaft. Diese lässt an Deutlichkeit absolut nichts zu wünschen übrig. Ein doppelt besetztes Polizeifahrzeug hält unmittelbar neben dem mit Gittern abgegrenzten Bereich vor der Botschaft Wache. Ob damit mehr die Botschaft beschützt oder das Abreißen und Entfernen der Plakate verhindert werden soll, bleibt für mich ungeklärt.

Protestplakate …
… gegen den Ukrainekrieg …
… vor der russischen Botschaft in Tallinn

In Maarjamäe/Marienberg, etwa 7 km außerhalb von Tallinn, wurde ein sehr großes, imposantes und eindringliches Mahnmal für die von den Sowjets ab 1941 ermordeten Esten angelegt. Zehntausende Angehörige dieses kleinen baltischen Volkes fielen damals dem Sowjetterror zum Opfer. Gezielt wurde vor allem die Intelligenz und das Offizierkorps eingekerkert, verschleppt und ermordet. Es ist das gleiche verbrecherische Vorgehen, das von den Sowjets auch in Katyn mit polnischen Offizieren praktiziert wurde. Nur ist Katyn deutlich bekannter. Dem soll das Mahnmal entgegenwirken. Lange Namenslisten der ermordeten estnischen Offiziere, vom Admiral bis zum Kapellmeister, lassen einen fassungslos zurück.

Es ist gerade mal eine Stunde vergangen, da stand ich noch vor den Protestplakaten gegen den von Russland angezettelten Ukrainekrieg und die in der Ukraine von Russland begangenen Kriegsverbrechen. Ich frage mich: Soll das eigentlich immer so weitergehen?

Mahnmal in Maarjamäe/Marienberg für die ab 1941 von den Sowjets ermordeten Esten

Unmittelbar neben dem Mahnmal befindet sich ein Deutscher Soldatenfriedhof mit Opfern des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Auf mehreren Tafeln sind die an der Abwehrschlacht in Estland 1944 auf deutscher Seite beteiligten Armee-Einheiten aufgelistet. Darunter befindet sich eine ganze Reihe von Freiwilligen-Verbänden, über die eher wenig geredet wird. Es geht um Einheiten aus den Niederlanden, Belgien, Dänemark, Norwegen und Skandinavien allgemein (Nordland).

Deutscher Soldatenfriedhof in Maarjamäe/Marienberg bei Tallinn
Auflistung von an der Abwehrschlacht in Estland 1944 beteiligten Freiwilligenverbänden

In Estland beschäftigt mich noch ein anderer, sehr konkreter Kriegsschauplatz. Es geht um den Ort Parve an der deutschen Verteidigungslinie Walk. Hier ist am 13. September 1944 der ältere Bruder meines Vaters knapp 21jährig gefallen. Sein Grab ist unbekannt. Er hieß wie ich Franz Thoren. Ich bin 8 Jahre nach seinem Tod geboren und wurde nach ihm benannt.

Im April 2007 war ich mit meinem damals fast 81jährigen und inzwischen verstorbenen Vater vor Ort, um nach dem Grab zu suchen. Mit Hilfe von Einheimischen konnten wir drei Grabstellen mit jeweils mehreren deutschen Soldaten identifizieren. Eins dieser Gräber war jahrzehntelang von einer einheimischen Frau gepflegt worden, die diese als sowjetische ausgeben musste, um dies ungestört tun zu dürfen.

Beim Besuch genau dieses nicht markierten Grabes, von dem ich damals die GPS-Koordinaten aufgenommen hatte, treffe ich auf den recht gut Deutsch sprechenden Großneffen dieser inzwischen verstorbenen Frau. Er bringt mich zu seiner Familie, die in den Jahren nach meinem 2007er Besuch etwa 50 m neben dem Grab ein neues Haus gebaut hat, und führt mich zur damaligen Frontlinie am Fluss, keine 200 m vom Haus entfernt. Die Schützengräben sind noch erstaunlich gut zu erkennen. Ein aufwändig mit Rundhölzern befestigter deutscher Unterstand ist sogar an der Originalstelle restauriert bzw. nachgebaut worden.

Eine große vom estnischen Kulturministerium aufgestellte Tafel informiert über die damaligen Geschehnisse. So erfahre ich, dass der entscheidende sowjetische Angriff, der die sehr stark befestigte deutsche Abwehrlinie durchbrach, am 14. September 1944 um 9.00 Uhr begann, also genau einen Tag nach dem Tod meines Onkels. Dieser konnte zwar noch ordentlich bestattet werden, aber die Information über die genaue Lage des Grabes ging verloren, da die Front aufgrund des erfolgreichen sowjetischen Angriffs bereits einen Tag später zurückgenommen werden musste. Wo das Grab genau liegt, wird wohl für immer unbekannt bleiben.

Die Verteidigungslinie Walk wurde übrigens nicht nur von deutschen Soldaten verteidigt. Auch estnische Omakaitse-Heimatschutz-Milizen aus den Gebieten Walk und Pärnu waren intensiv in die Abwehrschlacht eingebunden.

Diese Tafel erinnert an den Durchbruch der deutschen Verteidigungslinie Walk am 14.9.1944.

Schon kurz hinter Tallinn sind immer wieder einzelne Störche im Feld, auf Nestern und Laternenmasten zu sehen. Und dann fahre ich urplötzlich quasi durch ein Storchen-Cluster. Innerhalb von zwei bis drei Minuten sehe ich um einen kleinen Ort herum dutzende Störche links und rechts der Straße, danach dann aber für lange Zeit wieder nur noch einzelne. Ein paar Mal steht auch jeweils ein Kranichpärchen mit Störchen zusammen auf einer Wiese.

Storchennest am Ortseingang von Hummuli, dem früheren Hummelsdorf
Storch im Landeanflug …
… und nach erfolgter Landung

Im Baltikum ist Diesel etwa 15% preiswerter als in Finnland, und beim ersten Tankaufenthalt in Lettland zahle ich „nur noch“ 1,818 Euro pro Liter. Mein einziger nennenswerter Besichtigungsort in diesem mittleren der drei baltischen Länder ist die Stadt Cēsis/Wenden. Laut Reiseführer ist sie die lettischste aller lettischen Städte. Warum auch immer. Die Burg und die kleine Altstadt sind zwar ganz nett, das ist es dann aber auch.

Burg in Cēsis/Wenden
Im Zentrum von Cēsis/Wenden
Sundowner in Cēsis/Wenden

Die sehr attraktive lettische Hauptstadt Riga kenne ich von früher noch ganz gut, verzichte auf einen erneuten Besuch, fahre links an ihr vorbei, lasse die Stadt also quasi rechts liegen und steuere zügig den dritten und letzten Staat des Baltikums an.

Litauen ist das einzige Land auf meiner Nordkap-Reise, das ich vorher noch nicht besucht hatte. Mein Hauptziel hier ist eindeutig die Kurische Nehrung mit seinem Nationalpark und dem berühmten Ort Nida/Nidden, wo Thomas Mann sich 1929/30 sein Sommerhaus hatte bauen lassen. Außerdem möchte ich das Memelland ein bisschen kennenlernen und möglichst auch einen Blick über die Grenze in das jetzt russische nördliche Ostpreußen werfen.

Karte des litauischen Teils der Kurischen Nehrung

Auf gut ausgebauten Straßen geht es nach Klaipeda/Memel und dort ohne Wartezeit auf die bereitstehende Fähre, die mich 18 Euro kostet. Schon nach wenigen Minuten ist die andere Seite und damit die Kurische Nehrung erreicht, was mich erklärtermaßen leicht euphorisch stimmt. Ein paar Kilometer weiter wird dann die Eintrittsgebühr für den Nationalpark Kurische Nehrung fällig: 30 Euro pro Fahrzeug.

Auf dem gesamten litauischen Teil der Kurischen Nehrung gibt es nur genau einen zulässigen Übernachtungsplatz für Camper- und Wohnmobilreisende, nämlich den Campingplatz Nidos Kampingas bei Nida/Nidden. Dieser ist immerhin 50 km von der Fähre entfernt und bei meiner Ankunft bereits sehr gut gefüllt. Zum Glück findet sich für Leoni aber noch ein passender Stellplatz.

Von der direkt neben dem Campingplatz liegenden aktuell noch 52 m hohen Parnidis-Düne habe ich dann einen ersten schönen Blick auf Nida in die eine und die ca. 3 km entfernten russischen Grenze in die andere Richtung. Bei der Parnidis-Düne handelt es sich um eine der höchsten Wanderdünen Europas. Durch Erosion, vor allem aufgrund von unerlaubtem Klettern, hat die Düne in den letzten Jahrzehnten bis zu 20 m an Höhe verloren.

Blick von der Parnidis-Düne auf die Haffseite und Nida/Nidden
Blick in die andere Richtung. Das Kap im Hintergrund gehört schon zum russischen Teil Ostpreußens.

Wegen der starken Verschmutzung des Wassers im Haff muss man zum Baden auf die andere Seite der Nehrung an die Ostsee. Aber die Fuß- und Radwege dorthin sind kurz und gut ausgebaut, und der Badestrand ist jetzt in der Saison stets gut besucht.

Badestrand auf der Meerseite der Nehrung

In Nida und auch in Juodkrantė/Schwarzort sind einige alte Häuser erhalten geblieben und inzwischen liebevoll restauriert. Das unten im Bild gezeigte blau angestrichene Haus wurde 1927 von lokalen Handwerkern für den Berufsfischer Martin Purwin gebaut. Auf der Erklärungstafel heißt es in der englischen Version weiter: „In 1944, like most of the population of the Curonian Spit, he an his family moved to Germany.“ Hört sich doch gut an, oder? Moved to Germany. Nach Deutschland weggezogen. Von Flucht und Vertreibung ist nicht einmal im Ansatz die Rede. Manche Aussagen sind inhaltlich richtig und doch eine halbe Lüge.

Haus der Fischer-Familie, die 1944 nach Deutschland „weggezogen“ ist

Das interessanteste und bekannteste Haus auf der Kurischen Nehrung ist aber ganz sicher das Sommerhaus, das der Schriftsteller und Nobelpreisträger Thomas Mann 1929 in Auftrag gab und in dem er bis zu seiner Emigration 1933 mit seiner Familie den Sommerurlaub verbrachte. Heute ist darin das Thomas-Mann-Kulturzentrum untergebracht.

Die im Haus gezeigten Dokumente sind außerordentlich aufschlussreich. Sie zeigen, wie Thomas Mann schon sehr früh die Schandtaten der Nazis und die folgende Tatenlosigkeit von Polizei und Behörden in Zeitungsartikeln klar benannte und brandmarkte, lange bevor diese 1933 an die Macht kamen. Auch die Dokumente zu seiner Ausbürgerung 1936 und die anschließende Aberkennung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Bonn werden gezeigt.

Sommerhaus von Thomas Mann
Im Inneren des Sommerhauses

Ein sehr eindrucksvoller in einem der Räume des Hauses gezeigter Film hat als Thema einen Vortrag von Thomas Mann über sein Sommerhaus, den er 1931 bei den Rotariern in München gehalten hat. Der genial formulierte und sehr eindrückliche Text wird von Frido Mann, einem Enkel Thomas Manns, gesprochen. Er beschreibt die außergewöhnliche Schönheit und Einzigartigkeit der Kurischen Nehrung, geht auf die Besonderheiten des Sommerhauses ein und ist unterlegt mit einer geschickt gewählten Mischung von alten und aktuellen Fotos und Filmsequenzen. Nach dem Genuss dieses Films hat man viel von der Magie der Kurischen Nehrung verstanden. Ich jedenfalls bin stark beeindruckt.

Das Sommerhaus liegt vom Campingplatz aus gesehen am gegenüberliegenden Ende von Nida und somit schon ein ganzes Stück entfernt. Daher nehme ich das Fahrrad, um hinzugelangen. Nach der Besichtigung fahre ich dann auf den perfekt ausgebauten Radwegen der Kurischen Nehrung ein ganzes Stück weit nach Norden, an Preila und Pervalka vorbei, bis ich schließlich irgendwann umkehre und zurückfahre. Unterwegs treffe ich einen jungen und offenbar sehr sportlichen Radfahrer, der am Morgen in Lettland gestartet ist, zur russischen Grenze will und am gleichen Tag wieder zurück nach Lettland. Ein Tagespensum von 250 km. Das wäre mir deutlich zu viel, aber die Wege lassen so ein Vorhaben grundsätzlich zu.

Blick auf das Kurische Haff

Die Grenzanlagen zum russischen Teil Ostpreußens würde ich mir auch gerne ansehen und biege bei Nida mit dem Fahrrad auf die Straße 167 ein, die zum 86 km entfernten Kaliningrad/Königsberg führt, wie ein Straßenschild zu berichten weiß. Doch ca. 1,5 km vor der Grenze ist die Straße blockiert, und mein Vorhaben scheitert. Ein Grenzverkehr findet offensichtlich zurzeit nicht statt, vermutlich wegen des Ukraine-Kriegs.

Auf der Straße 167 ca. 3 km vor der Grenze zum russischen Teil Ostpreußens
Anderthalb Kilometer weiter ist die 167 dann gesperrt.

Ich habe vor, bei der Weiterfahrt auch den verbleibenden größeren Teil des Memellandes näher kennenzulernen, zu dem der nördliche Teil der Kurischen Nehrung ja gehört. Vor allem möchte ich auch den Grenzfluss Memel (litauisch Nemunas) mal zu Gesicht bekommen.

Wikipedia weiß zum Memelland Folgendes zu berichten: Im Vertrag von Melnosee wird 1422 zwischen dem Deutschen Orden und dem Bündnis von Polen und Litauen die Grenze zu Litauen festgelegt, die dann 500 Jahre lang bis 1920 Bestand hat. Nach der Pyrenäengrenze zwischen Spanien und Frankreich ist dies die zweitälteste Grenze in Europa. Das Memelland als Gebietseinheit entsteht erst 1920, als Deutschland im Versailler Vertrag gezwungen wird, dieses jetzt so bezeichnete Gebiet ohne Volksabstimmung abzutreten. Bis dahin ist es Teil Ostpreußens, 2.656,7 qkm groß, 140 km lang und bis zu 20 km breit. Ab 1920 steht es zunächst unter französischer Verwaltung und wird dann 1923 handstreichartig von Litauen annektiert. Eine litauische Volkszählung von 1925 ergibt, dass sich von den 140.000 Einwohnern des Gebiets 72,5% als Deutsche und 27,5% als Litauer bezeichnen. 1939 zwingt Nazi-Deutschland Litauen unter Kriegsandrohung, das Memelgebiet wieder an Deutschland abzutreten.

Für die Rückfahrt mit der Fähre nach Klaipeda entstehen keine weiteren Kosten. Diese sind offenbar schon im Preis der Hinfahrt enthalten. Ich fahre durch weites, offenes, sehr ländliches und leicht welliges Gelände nach Šilutė/Heydekrug und dann weiter zur Grenze nach Sowjetsk/Tilsit. Hier erhoffe ich mir einen Blick auf den Grenzfluss Memel und die Stadt Tilsit auf der anderen Seite. Doch daraus wird nichts. Zwar hindert mich niemand, bis dicht an die Grenzabfertigungsanlagen heranzufahren, aber die Schranken sind unten, und kein Offizieller ist zu sehen. Auch vom Fluss und von der Stadt Tilsit sehe ich nichts. Auch hier ist die Grenze offenbar geschlossen.

Geschlossene Grenze gegenüber von Sowjetsk/Tilsit

Ich drehe um und fahre aus dem Memelland heraus, ca. 30 km Richtung Norden nach Tauragė /Tauroggen, um dort ein Mittagessen zu mir zu nehmen. In dieser Kleinstadt schloss der preußische Generalleutnant von Yorck Ende 1812 eigenmächtig einen Waffenstillstand mit Russland, nachdem dort der Feldzug der mit Preußen verbündeten französischen Truppen komplett gescheitert war, die sogenannte Konvention von Tauroggen. Dieser Austritt Preußens aus dem erzwungenen Bündnis mit Frankreich wird landläufig als der Anfang vom Ende Napoleons gesehen.

Den Grenzfluss Memel habe ich bisher immer noch nicht gesehen. Ich studiere die Karte und fahre nach Smalininkai, das ist ein kleines Dorf direkt am Fluss. Bis hierher bildet die Memel flussaufwärts gesehen die Grenze zum russischen Teil Ostpreußens. Ich komme mit Leoni direkt an den Fluss heran, laufe ein Stück am Ufer entlang und habe dieses Zwischenziel somit endlich erreicht. Ein paar Kilometer weiter überquere ich dann die Memel sogar auf einer Brücke. Aber da bildet sie nicht mehr die Grenze, sondern ist auf beiden Seiten litauisch, was den Reiz für mich deutlich mindert.

Die Memel bei Smalininkai. Auf der anderen Seite liegt der russische Teil Ostpreußens.

Kurz darauf erlebe ich ein weiteres Tank-Abenteuer. Die Anzeige auf der großen Preistafel an einer Tankstelle weist 1,780 Euro pro Liter Diesel aus. Ich öffne die beiden Tankdeckel, hänge die Zapfpistole in den hinteren Tank ein und stelle fest, dass die Zapfsäule 1,860 Euro pro Liter Diesel ausweist. Dies sind immerhin 8 Cent mehr als auf der Anzeigetafel. Ich verzichte erst einmal aufs Tanken und beschwere mich. Nach einigem Hin und Her bekomme ich auf Deutsch (!) klipp und klar erklärt: „Das ist bei uns so!“ Nämlich damit die Kunden ihren Vorteil durch den gewährten Aktionspreis auch klar erkennen können. Ich bin doch mehr als ein bisschen überrascht, glaube nicht, dass ich Ähnliches schon einmal irgendwo auf der Welt erlebt habe, zahle dann nach dem Tanken aber tatsächlich ohne weitere Diskussion nur den niedrigeren Preis.

Ein paar Kilometer weiter entdecke ich vor mir einen großen Vogelschwarm in der Luft. Es sind Störche, die in der Thermik ihre Kreise ziehen. Und zwar sehr viele Störche. Ich schätze 80 – 100 Stück. Es ist ein absolut faszinierendes Erlebnis. Ich hatte schon gehört, dass Litauen in Europa über die dichteste Storchenpopulation verfügt, nach meinen Erfahrungen bisher aber eher Estland diese Spitzenposition zugetraut. Außer etlichen Fotos erstelle ich auch eine kurze Videosequenz, die das Geschehen meines Erachtens besonders gut wiedergibt.

80 – 100 Störche in der Luft

 

An der polnischen Grenze verfallen wie auch an allen anderen Grenzübergangsstellen im Baltikum die Abfertigungshallen, die innerhalb der EU jetzt nicht mehr gebraucht werden. Beim ersten auftauchenden Kantor, so heißen die Geldwechselstuben in Polen, erwerbe ich polnische Złoty und damit erstmals seit Norwegen wieder einmal eine neue Fremdwährung.

Straßenschilder nach Sejny und Gołdap erinnern mich an meine Solo-Fahrradtour von 1980, als ich von Warschau aus die ehemaligen deutschen Ostgebiete mit dem südlichen Ostpreußen, Danzig und Pommern erkundet hatte. Wie damals übernachte ich in Suwałki auf einem Campingplatz, aber wahrscheinlich nicht auf demselben. Suwałki hat sich gewaltig verändert und ist gegenüber damals nicht mehr wiederzuerkennen. Dies gilt auch für den gesamten polnischen Teil Ostpreußens, den ich am nächsten Tag bei strömendem Regen durchfahre. Es gibt etliche nagelneue Autobahnabschnitte, und weitere größere Strecken sind aktuell noch im Bau. Insgesamt herrscht ein enormer Verkehr, und eine Fahrradtour wie damals kann ich mir in diesem Gebiet kaum noch vorstellen. Mir wäre das zu gefährlich.

Mein nächstes Ziel ist die Stadt Toruń, früher unter den Namen Thorn oder auch Thoren bekannt. Auch wenn mein Familienname wahrscheinlich nichts mit der Stadt an der Weichsel zu tun hat, so hat Toruń/Thorn doch immer schon einen gewissen Reiz auf mich ausgeübt. Und jetzt darf ich diese wunderschöne mittelalterliche Stadt, die den Krieg praktisch unversehrt überstanden hat, endlich kennenlernen.

Teil der Stadtbefestigung von Toruń/Thorn

Einen sehr stadtnahen Stellplatz finde ich beim Ruderclub am Ufer der Weichsel, der offenbar auch eine Art polnisches Olympiazentrum darstellt. Die vielen Pokale und Fotos mit Olympiamedaillen-Gewinnern weisen jedenfalls in diese Richtung.

Thorn ist eine faszinierende Stadt mit sehr viel Flair. Wie letztes Jahr in Lemberg wird mir auch hier in der Tourist Information geraten, als erstes den Rathausturm zu besteigen und mir die Stadt von oben anzuschauen. Ich folge dem Rat und kann mich von dem gebotenen Panorama kaum wieder losreißen. Thorn hat jedenfalls sein Weltkulturerbe-Siegel aus meiner Sicht voll verdient.

Rathaus mit Rathausturm
Blick vom Rathausturm. Rechts die Marienkirche
Blick vom Rathausturm in die andere Richtung. Hinten rechts die Jakobskirche

In den drei großen Kirchen von Thorn, der Jakobskirche, dem Johannisdom und der Marienkirche suche ich die Wände nach Zeugnissen der deutschen Vergangenheit ab, nach Grabplatten, Votivtafeln oder Ähnlichem. Und werde nicht fündig. Alle von mir noch entzifferbaren alten Inschriften sind lateinisch, nicht deutsch. Die Polen haben nach dem Krieg sehr gründlich alles Deutsche eliminiert und durch polnische Plaketten, Tafeln und Inschriften ersetzt. Auf meiner gesamten Fahrt durch Polen, die noch bis Stettin und somit fast ausschließlich durch ehemals deutsche Gebiete weiterführt, entdecke ich nicht einen einzigen Hinweis auf die deutsche Vergangenheit, die es dem Anschein nach nie gegeben hat. Kein Straßenschild, kein Flur- oder Gasthofname, rein gar nichts. Dies entspricht exakt meinen Erfahrungen aus dem letzten Jahr in Schlesien.

Standbild von Nikolaus Kopernikus vor dem Thorner Rathaus

Daher bin ich echt verwundert über ein Faltblatt zum größten Sohn der Stadt Thorn, dem Astronomen Nikolaus Kopernikus, das mir in der Tourist Information überreicht wird. Darin wird als Herkunftsregion seines Vaters Schlesien vermutet, von wo aus Vater Kopernikus nach Krakau gelangte und sich schließlich als Kaufmann in Thorn niederließ. Die Mutter des Astronomen stammte nach dieser Unterlage aus der großen und wohlhabenden Thorner Familie Watzenrode, was dem gerne behaupteten polnischen Hintergrund des großen Kopernikus doch etwas mehr als nur ein klein wenig widerspricht.

Kołobrzeg/Kolberg war bei meiner Fahrradtour 1980 der Endpunkt der Reise, von wo aus ich mit dem Zug über Posnań/Posen und Berlin wieder nach Hause fuhr. Ich will diesen damals ruhigen, fast verschlafenen Ort wiedersehen und steuere ihn daher an. Von dem Mallorca-Ambiente, das ich am Ziel vorfinde, bin ich dann aber völlig überrumpelt. Es herrscht buchstäblich Halli-Galli in allen Gassen. An einen Parkplatz in der Stadt ist gar nicht zu denken, und auch die sehr schönen Sandstrände etwas außerhalb der Stadt sind völlig überfüllt.

Strand bei Kołobrzeg/Kolberg
Auf dem Weg nach Szczecin/Stettin

Mein letzter Übernachtungsplatz in Polen liegt dann an einer Marina etwas außerhalb der Stadt Szczecin/Stettin. Mit dem Taxi fahre ich ins Zentrum. Die Tourist Information versorgt mich mit einer Stadtkarte, auf der ein empfohlener 7 km langer Stadtrundgang eingezeichnet ist. Rote Markierungen auf dem Boden kennzeichnen den Weg, was zunächst einmal sicher eine gute Idee ist, um interessierte Touristen zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt zu geleiten. Das Problem dabei ist nur, dass die Kennzeichnung immer mal wieder für eine Weile aussetzt, mal wegen einer Baustelle, mal, weil man nach einer Straßensanierung versäumt hat, die Markierungen zu erneuern, warum auch immer. Ich verliere jedenfalls mehrfach den Weg, was bei der verschlungenen Streckenführung durchaus leicht frustrierend ist.

Insgesamt ist Stettin im Krieg sehr viel stärker in Mitleidenschaft gezogen worden als beispielsweise die Stadt Thorn und hinterlässt daher bei mir auch einen deutlich weniger nachhaltigen Eindruck.

Zentrum von Szczecin/Stettin mit dem Thermoskanne genannten Aussichtsturm
Johanneskirche, wichtigstes erhaltenes mittelalterliches Gebäude in Stettin
Wilhelminische Verwaltungsgebäude an der Stettiner Haken-Terrasse

Ein von mir noch nicht angesprochenes Thema betrifft die Autobahn-Maut in Polen. Bei meiner letztjährigen Osteuropa-Tour bin ich an diesem Thema ja fast verzweifelt (siehe Bericht „Durch Tschechien, Polen, Slowakei und Ukraine nach Rumänien“ auf dieser Website). Dieses Mal bin ich zunächst ganz entspannt, denn die polnischen Mautstrecken, die im Internet auf allen möglichen Websites dargestellt sind, verlaufen praktisch alle in der Mitte und im Süden des Landes, also da, wo ich dieses Mal gerade nicht unterwegs bin. Eine Ausnahme bildet das Stück Autobahn von Stettin zur deutschen Grenze, das jetzt unmittelbar vor mir liegt.

Also versuche ich vor Ort herauszufinden, wie mit diesem Stück Maut-Autobahn umzugehen ist, bekomme aber keine brauchbare Antwort. Daher starte ich eine Recherche im Internet und stelle fest, dass die Autobahnen bzw. Schnellstraßen im Norden des Landes zwar für Fahrzeuge bis 3,5 t tatsächlich mautfrei sind, keineswegs aber für Fahrzeuge > 3,5 t, zu denen Leoni ja gehört. Dazu passt, dass ich unterwegs immer wieder Sensorbrücken durchfahren habe, deren Existenz ich aber nie mit mir in irgendeinen Zusammenhang gebracht habe. Es gab auch auf der gesamten Strecke von Suwałki bis Stettin nicht einen einzigen für mich deutbaren Hinweis auf das Thema Maut, was letztes Jahr im Süden des Landes noch völlig anders war. Dass Polen gerade vom Mautsystem viaTOLL auf e-TOLL umstellt, macht die Sache auch nicht übersichtlicher.

Falls die polnische Mautverwaltung über eine sehr gute Dateninfrastruktur verfügt, weiß sie noch aus dem letzten Jahr, dass ein Fahrzeug > 3,5 t mit dem Kennzeichen LEO NI 60 existiert und zurzeit auf den Schnellstraßen Nord-Polens herumfährt, ohne bei e-TOLL registriert zu sein. Das wäre dann möglicherweise schlecht für mich. Um dieses neu erkannte Risiko nicht weiter zu erhöhen, beschließe ich, das anstehende Autobahnstück bis zur Grenze zu meiden und stattdessen quer durch Stettin zu einem Grenzübergang etwas weiter nördlich zu fahren.

Auf dem Weg dorthin bin ich dann ziemlich überrascht, dass noch 2 km vor der Grenze und schließlich sogar unmittelbar vor der Grenze Sensorbrücken zu durchfahren sind. Auf einer absoluten Nebenstrecke also. Vielleicht kommt hier noch ein dickes Ende auf mich zu. In Summe empfinde ich die Mautregelung in Polen als enormen Stressfaktor und buchstäblich als Katastrophe.

Vor der Grenzüberquerung tanke ich Leoni voll. Der zu zahlende Dieselpreis von 6,99 Złoty, umgerechnet 1,485 Euro pro Liter, ist und bleibt der mit Abstand niedrigste Wert der gesamten Reise. Beim folgenden Tankstopp in der deutschen Provinz zahle ich mit 1,769 Euro pro Liter wieder deutlich mehr.

Bei meiner Rückkehr nach Deutschland werden mir interessante Besonderheiten im deutschen Straßenverkehr bewusst. Fangen wir an mit der Autobahn A2 von Berlin nach Hannover. Auf einer gefühlt sehr langen Strecke von vielleicht hundert Kilometern ist auf der toll ausgebauten dreispurigen Strecke Überholverbot für Lastwagen angezeigt. Ich reihe mich in die endlose Schlange der LKWs auf der rechten Spur ein und fahre völlig entspannt ohne irgendeinen durch Überholmanöver ausgelösten Stress mit 80 km/h ruhig vor mich hin. Der Verkehr fließt völlig problemlos. Kaum ist dann jedoch das Überholverbotszeichen ausgeschaltet, gebärden sich viele Lastwagenfahrer wie die Wahnsinnigen. Überholmanöver mit Geschwindigkeitsunterschieden von 0,1 km/h sind an der Tagesordnung, immer wieder entstehen gefährliche Situationen, und der Verkehr stockt.

Der ganz normale Wahnsinn auf deutschen Autobahnen

Bei einem Vorgang, der mich unmittelbar betrifft, steht ein Lieferwagen auf dem Standstreifen. Dessen Fahrer schert dann unmittelbar vor mir, offenbar ohne den Rückspiegel zu konsultieren, abrupt in die rechte Fahrspur ein. Nach links kann ich nicht ausweichen, da mich gerade ein Lastwagen überholt. Mit einer Vollbremsung kann ich einen Unfall gerade noch vermeiden.

Der letzte Vorgang dieser Art fand vor genau zwei Monaten am Anfang der Reise statt, ebenfalls in Deutschland. Damals quetschte sich ein auf die Autobahn einfahrender PKW in einer Kamikaze-Aktion in den ohnehin sehr kurzen Sicherheitsabstand vor mir, musste dann sofort aus irgendwelchen Gründen hart bremsen und zwang mich damit zu einer wirklich haarsträubenden Vollbremsung.

In allen 8 Ländern, die ich in den beiden Monaten dazwischen bereist habe, gab es nichts dergleichen, also Null Komma Null kritische Straßenverkehrssituationen. Wie kommt das wohl? Der Irrsinn auf deutschen Straßen hat System, und ganz offensichtlich gebietet dem niemand Einhalt. Vielleicht kann das ja mal jemand dem deutschen Verkehrsminister nahebringen.

Die auf Leonis Seitenwand aufgetragene Route …
… und die auf der Reise genutzten Übernachtungsplätze

Am Nachmittag des 13. August, also nach genau zwei Monaten und einem Tag, komme ich wie geplant wieder bei Hildegard in Renningen an, nach etwas mehr als 10.000 gefahrenen Kilometern. Meine sehr abwechslungsreiche Reise ins Land der Mitternachtssonne ist damit zu Ende.

Im Poststapel, der sich in den zwei Monaten auf meinem Schreibtisch angesammelt hat, befindet sich auch schon die Rechnung des norwegischen autopass-Systems. Alle mautpflichtigen Brücken, Tunnel und Fähren, die ich genutzt habe, sind darin detailliert aufgeführt. Erstaunt bin ich über den geringen insgesamt zu zahlenden Betrag von nur 1.855,20 NOK, was etwa 185 Euro entspricht. Bei vielen Positionen habe ich wesentlich höhere Kosten erwartet. Als Beispiel sei die Fähre von Bodø nach Moskenes auf den Lofoten genannt. Im Internet hatte ich vor der Überfahrt noch einen Preis von ganz knapp unter 1.000 NOK ermittelt, letztlich bezahlen muss ich dagegen nur 678,60 NOK.

Ein Kommentar

  1. Hermann Rafalzik said:

    Hallo Franz,
    Wieder schön geschrieben!!
    Bei den deutschen Autobahnen kann ich voll zustimmen. Grausam!
    Wie entspannt ist es da z.B. in Norwegen!!.

    Gruß Hermann

    16. September 2022
    Reply

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