Dienstagsmorgens kommen wir aus der Antarktis nach Ushuaia zurück, und am Tag darauf bringe ich Hildegard zum Flughafen. Sie fliegt für drei Wochen nach Deutschland. Ihre Tochter Carla erwartet ihr zweites Kind, und Hildegard möchte sie unterstützen und natürlich ihr zweites Enkelkind kennenlernen. Wir haben das Ganze so organisiert, dass sie nach Rio Gallegos in Süd-Patagonien zurückfliegt, wo ich sie dann wieder für unsere Weiterreise in Richtung Alaska abholen will.
So werde ich also plötzlich für drei Wochen zum Strohwitwer. Die ersten Nächte verbringe ich beim Camping Municipal von Ushuaia, wechsele dann aber nach einer sehr lauten Wochenendnacht mit wummernder Musik auf einen wesentlich ruhigeren Campingplatz im nahe gelegenen Parque Nacional Tierra del Fuego.
Direkt am Camping Municipal befindet sich der Bahnhof der Ferrocarril Austral Fuegino, der südlichsten Bahnlinie der Welt. Es handelt sich dabei um eine Schmalspurbahn, die über ein paar Kilometer in den Nationalpark hineinführt. Ursprünglich wurde sie von Sträflingen gebaut, um so die Versorgung von Ushuaia mit Feuerholz sicherzustellen. Heute dient sie ausschließlich touristischen Zwecken. Und wie ich feststellen kann, ist sie trotz des stolzen Fahrpreises außerordentlich gut besucht. Praktisch jeder Feuerland-Tourist wird während seines Aufenthalts irgendwann frühmorgens mit einem Bus herangekarrt, auf den Zug gesetzt und an der Endstation wieder von seinem Bus abgeholt. Dann geht es weiter in den Nationalpark hinein, letztlich bis zum Ende der Panamericana an der Bahia Lapataia.
Die nächsten Tage verbringe ich, indem ich die vorhandenen Wanderwege im Nationalpark der Reihe nach „abarbeite“. Einige davon sind durchaus schweißtreibend. Hervorzuheben ist diesbezüglich die Wanderung auf den Cerro Guanaco, die dafür herrliche Ausblicke auf den Beagle-Kanal und die südlich davon liegenden chilenischen Inseln des Feuerland-Archipels gewährt. Der Herbst kündigt sich überall durch die beginnende Verfärbung der Blätter an, wobei interessanterweise nicht alle der hier vorkommenden Südbuchenarten ihr Laub abwerfen. Einige sind immergrün.
Mein tägliches warmes Essen hole ich mir jeweils um die Mittagszeit in der Cafeteria des Visitor Centers. Das kann allerdings auch erst um drei Uhr nachmittags sein, denn die Argentinier essen in der Regel relativ spät zu Mittag. Als ich hier zum vierten Male quasi Fast Food esse, in der Mikrowelle aufgewärmte Empanadas oder Ähnliches aus der Auslage der Selbstbedienungstheke, registriere ich auf dem Nachbartisch eine große Grillplatte, Schüsseln voll frischem Salat, große Eisbecher, etc. Und auf Nachfrage bekomme ich dann eine reguläre Speisekarte mit allen Schikanen, die zumindest mir gegenüber bisher geheim gehalten wurde. Bei meinem fünften Besuch kann ich diese dann uneingeschränkt nutzen.
Ein weiterer Pluspunkt des Visitor Centers liegt darin, dass hier eine Telefonverbindung zur Außenwelt existiert. Es gibt zwar kein Internet, aber immerhin ein Telefonnetz. Und eines Tages finde ich hier ein SMS von Hildegard auf meinem Smartphone, dass Carla eine Tochter Lea geboren hat. Mutter und Kind sind wohlauf.
Am gleichen Tag gehe ich nachmittags auf den Trail am Lago Roca entlang zur nahen chilenischen Grenze. Es hatte in der Nacht und auch noch am Morgen kräftig gestürmt, und ich hatte deshalb meine tägliche Wanderung auf den Nachmittag verschoben. Da windet es zwar immer noch stark, aber der eigentliche Sturm ist offenbar vorbei. Die Überraschung kommt, nachdem ich auf dem Wanderweg ein paar Minuten in den Wald hineingegangen bin. Umgestürzte Bäume liegen kreuz und quer über dem Weg, und an manchen Stellen komme ich nur noch nach umfangreichen Kletterpartien weiter. Drei junge Leute, die mir entgegen kommen, berichten, dass ein Baum in ihrem Beisein in unmittelbarer Nähe umgefallen ist. Ich laufe weiter bis zur Grenze, die gekennzeichnet ist durch ein hohes metallenes Gerüst und ein Schild, das ein Weitergehen verbietet, immer auf Knirschen und Krachen im Geäst achtend, kehre dann um und erreiche Leoni unversehrt an Leib und Seele.
Zwei kleinere Missgeschicke ereilen mich im Nationalpark aber doch noch. Einmal habe ich wohl vergessen, den Kühlschrank ordnungsgemäß zu verriegeln. Als ich durch eine tiefe Bodenwelle fahre, tut es hinter mir einen ziemlichen Schlag, den ich mir zunächst nicht erklären kann. Erst später sehe ich die Bescherung. Der gesamte Kühlschrankinhalt hat sich in die Kabine entleert. Die dadurch angerichtete Sauerei hält sich aber zum Glück in Grenzen. Die Flaschen sind ganz geblieben, nur das Obst hat etwas Schaden genommen. Beim zweiten Vorfall fühle ich mich dagegen völlig unschuldig. Bei einer Pistenfahrt – im Nationalpark gibt es nur Pisten – fällt mir die komplette Überkopfablage mit dem gesamten Inhalt ins Gesicht. Das ist zum Einen überraschend und zum Anderen schmerzhaft. Der Schmerz vergeht schnell wieder, und die Überkopfablage lässt sich problemlos wieder in die Halterung hineinschieben und einklipsen.
Nach ein paar Tagen entschließe ich mich zu einem Ortswechsel und fahre auf einer Nebenstrecke am zum Teil äußerst malerischen Beaglekanal entlang Richtung Osten zur Estancia Haberton und später weiter zur Estancia Moat. Unterwegs entdecke ich auf einer Lichtung im Wald zwei mittelgroße dunkelgrüne Papageien, und später noch einmal vier weitere. Richtige Papageien. So weit im Süden hätte ich die nicht vermutet. Ein Stück weiter sitzt ein großer Eisvogel auf dem Geländer einer Metallbrücke, die ich überqueren muss. Ich steige aus, fotografiere ihn erst von weitem, gehe dann immer näher heran und schieße ein Bild nach dem anderen. Als ich noch ca. 3 m entfernt bin, fliegt er weg, aber nicht etwa aus Angst vor mir, sondern er taucht ins Wasser, schnappt sich einen Fisch und kommt zurück. Und setzt sich keine 2 m vor mir auf das Brückengeländer. Das ist so nah, dass er mir bei dem verwendeten Objektiv auf meiner Kamera schon fast zu nah ist. Es ist absolut nicht zu glauben. In aller Ruhe verspeist er dann seinen Fisch, nachdem er diesen vorher durch heftige Kopfbewegungen bewusstlos oder tot geschlagen hat, damit er nicht so zappelt. Mit einem zweiten Fisch macht er das anschließend genauso.
Die 20.000 ha große Estancia Haberton wurde 1886 gegründet und ist damit die älteste Estancia Feuerlands. Der britische Missionar Thomas Bridges versuchte hier Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, die einheimischen Yahgan- oder Yámana-Indianer, die traditionell Kanu-Nomaden waren, zu schützen. Sein Lebenswerk ist ein Wörterbuch Yahgan – Englisch. Genutzt hat es den Eingeborenen letztlich nichts. Es gibt keine Feuerland-Indianer mehr.
Bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts lebte die Estancia Haberton von der Schafwirtschaft. Nach einem besonders strengen Winter, in dem fast alle Schafe umkamen, wurde diese jedoch aufgegeben. Heute setzt man voll auf Tourismus. Täglich wird die Estancia von Schiffen und Bussen aus Ushuaia angesteuert. Eine bemerkenswerte Besonderheit ist das Museum mit seiner imposanten Ausstellung von Meeressäugern, Pinguinen und anderen Seevögeln. Wissenschaftler der Universität Ushuaia untersuchen hier vor allem die Überreste gestrandete Wale und Delfine. Fast alle Untersuchungsobjekte stammen aus der Bahia San Sebastian an der Atlantikseite Feuerlands, die wegen ihrer großen Tidenhübe eine Falle für Meeressäuger darstellt.
Auf dem weitläufigen Gelände der Estancia Haberton finde ich zwei sehr schöne und völlig einsame Übernachtungsplätze. Den einen an einer mit alten Bäumen bestandenen Flussschleife in Sichtweite des Beagle-Kanals, und den anderen ein Stück weiter in genialer Lage direkt am Beagle-Kanal, nur 10 m vom Wasser entfernt. Direkt gegenüber am Ausgang des Beagle-Kanals liegen die Inseln, die lange zwischen Argentinien und Chile umstritten waren und 1986 durch einen päpstlichen Schiedsspruch Chile zugesprochen wurden.
Auf dem Weg nach Norden zur chilenischen Grenze erwische ich einen Sturm- und Regentag und übernachte 100 m vor der argentinischen Grenzstation in San Sebastian an einer Tankstelle. Hier esse ich die restlichen frischen Vorräte auf, deren Einfuhr nach Chile verboten ist. Am nächsten Tag ist das Wetter weiterhin schlecht, und außerdem ist auf der chilenischen Seite Piste angesagt, mit übelstem Wellblech und vor allem auch Schlamm. Leoni sieht bald entsprechend aus. Nachmittags wird das Wetter besser, und in Cerro Sombrero fahre ich plötzlich völlig überraschend auf einer nagelneuen, toll ausgebauten Betonstraße. Leoni und ich „schweben“ geradezu zur Bahia Azul an der Primera Angostura del Estrecho de Magellanes, der ersten Engstelle der Magellanstraße. Eine Fähre wird bei meiner Ankunft gerade beladen, und Leoni passt gerade noch drauf. Die Lastwagen dagegen, an denen ich vorbeirolle, nicht mehr. An Bord frage ich mich durch, wo ich ein Ticket erwerben kann, und schon nach 20 Minuten sind wir auf der anderen Seite der Magellanstraße, in Patagonien. Kein Mensch kontrolliert mein Ticket.
Mein Tagesziel ist der Nationalpark Pali Aike direkt an der Grenze zu Argentinien. Hier bleibe ich drei Nächte. Der Park kommt mir 1:1 vor wie bestimmte Gebiete in Island. Jede Menge Krater und viel schwarze Lava. Ich bin der einzige Besucher im Park, mache lange, herrliche Wanderungen in alle Richtungen und sehe zweieinhalb Tage bzw. 60 Stunden lang keine einzige Menschenseele. Das ist etwas völlig Ungewöhnliches, das es seit meiner Geburt noch nicht gegeben hat.
Etwas problematisch in Pali Aike ist meine Versorgungslage. Hinter der Grenze in San Sebastian habe ich auf chilenischem Gebiet keinerlei Versorgungsmöglichkeit entdeckt, und der Kühlschrank ist erschreckend leer. Aber ich finde im Schrank etwas Knäckebrot, ein paar Beutel mit Tütensuppen und zwei Dosen Pfirsiche, mit denen ich mich über Wasser halte.
Bei meiner Weiterreise nach Rio Gallegos in Argentinien fahre ich vor Villa Punta Delgada durch ein mit Zäunen und Schildern in spanischer, englischer und deutscher (!) Sprache abgesichertes Minenfeld links und rechts der Straße. Bei der Herfahrt war mir das gar nicht aufgefallen. Wieso sich hier ein Minenfeld befindet, bleibt rätselhaft. In der deutschsprachigen Warnung ist übrigens von einem „Mienenfeld“ die Rede.
Mein Grenzübertritt nach Argentinien gestaltet sich etwas „holprig“. Ich stehe zunächst länger im falschen Gebäude in der Schlange der Reisenden an, die nach Chile einreisen wollen. Irgendwann klärt mich ein Uniformierter auf, dass das für mich zuständige Gebäude erst 700 m weiter kommt. Hier ist alles gähnend leer, und die Formalitäten sind schnell erledigt.
Rio Gallegos dient mir nur als Durchgangsstation zum Auffüllen des Kühlschranks sowie der Wasser- und Dieseltanks. Ich fahre dann gleich 200 km weiter nach Norden zum Parque Nacional Monte Leon. Dies ist eine ehemalige Estancia von knapp 700 km2, die erst 2004 den Status Nationalpark erhalten hat. 40 km Küste mit Pinguin- und Seelöwenkolonien sowie das Hinterland sind dadurch geschützt. Eine Besonderheit ist die starke Präsenz von Pumas (in südamerikanischem spanisch: leon, also Löwe), die sich im Wesentlichen von den zahlreichen Guanakos und den noch viel zahlreicheren Pinguinen ernähren. Überall stehen Warnschilder mit Hinweisen, dass man nicht alleine wandern soll. Eine Gruppe von zwei oder mehr Personen wird nämlich praktisch nie von Pumas angegriffen. Das Problem ist dabei, dass ich nun mal alleine unterwegs bin. Und zumindest in der ersten Nacht bin ich sogar der einzige Besucher im Park. Ein zu Rate gezogener Guardaparque (Ranger) erklärt mir dann, dass besonders die frühen Morgenstunden und die Zeit vor der Abenddämmerung kritisch sind. Um die Mittagszeit herum könne man schon alleine unterwegs sein. Und so bekomme ich doch noch die ganz ansehnliche (Magellan-) Pinguinkolonie zu sehen, die fünftgrößte in Argentinien. Was ich leider nicht zu sehen bekomme, ist ein Puma.
Von Monte Leon aus fahre ich zurück nach Rio Gallegos und richte mich abends auf dem Flughafenparkplatz ein. Und am nächsten Morgen um 2.42 Uhr landet die Maschine mit Hildegard an Bord. Meine Solo-Tour ist zu Ende. Ab sofort geht es wieder gemeinsam weiter. Richtung Norden. Mit Fernziel Alaska.
Hallo Franz,
ich verstehe nicht, weshalb Du keinen Puma gesehen hast. Der Ranger hat Dir doch genau erklärt, zu welchen Zeiten man welche sehen kann.
Trotzdem: Viel Spaß bei der weiteren Reise in Richtung Norden – und, Berglöwen gibts auch noch in USA (aber nur am Morgen und am Abend).
Beim Jaguar in Kolumbien würde ich mich auf diese Zeiten aber nicht verlassen.
Viel Glück
Bernd
Halle Hildegard, Hallo Franz,
noch ein Tip für Ostern, denn sicher habt Ihr nichts im Auto, um Ostereier zu bemalen.
Das Araucana Huhn lebt an der Westküste von Chile und Peru und wurde 1880 beim Indianerstamm der Araucaner in Chile entdeckt (daher der Name). Das Huhn ist völlig friedfertig und greift Wanderer fast nie an.
Aber der Clou zu Ostern ist:
Das Araucana Huhn legt türkisfarbene Eier.
Frohe Ostern
Bernd
Hallo Ihr Lieben !
Ganz tolle Berichte habt Ihr bereit gestellt.
Wir hoffen, es geht Euch gesundheitlich gut.
Auf Eure nächsten Berichte und Abenteuer freuen wir uns sehr.
Liebe Grüße
Walter u. Marianne Pickartz