Der Grenzübertritt nach Kanada ist der einfachste der bisherigen Reise. Es ist früher Sonntagmorgen, und an der Grenze ist noch überhaupt nichts los. Auf der US-Seite will keiner etwas von uns, d.h. eine formale Ausreise findet gar nicht statt, genau wie vor ein paar Wochen bei der Ausreise aus Mexiko. Auf der kanadischen Seite bekommen wir die Frage gestellt, ob wir Feuerwaffen, Brennholz oder Alkohol an Bord haben. Die von uns angegebenen 2 – 3 Flaschen Wein und 5, 6 oder 7 Dosen Bier werden zur Kenntnis genommen und nicht weiter kommentiert. Nach Lebensmitteln oder der Kfz-Versicherung wird nicht gefragt. Schon nach wenigen Minuten sind wir durch. Wir mussten nicht einmal aus unserem Auto aussteigen. Kontrolliert wurde mit Ausnahme der Reisepässe nichts.
Beschwingt fahren wir weiter durch schier endlose Prärie-Landschaft. Zur Linken begleiten uns in einigem Abstand die Rockies. In der Kleinstadt Cardston liefert ein ATM am Straßenrand die nötigen kanadischen Dollars, mit denen wir etwas später im Walmart in Calgary erst einmal einkaufen gehen. Wir hatten unsere Vorräte vor der Grenze sicherheitshalber praktisch komplett aufgebraucht. Unnötigerweise, wie sich herausgestellt hat. Im Walmart lernen wir, dass nicht nur die Mormonen in Salt Lake City im Supermarkt keinen Wein verkaufen. Bei den Kanadiern gibt es dort nicht einmal Bier. Zum Kauf alkoholhaltiger Getränke muss man stets die staatlichen oder zumindest staatlich überwachten Liquor Stores ansteuern. In der Brooklyn Pizzeria zwischen Walmart und Liquor Store genießen wir dann die mit Abstand beste Pizza der gesamten Reise. Einfach köstlich. Ähnlich gut wie bei Guiseppe in Renningen.
Für die nächsten zwei Tage ist dann der sehr gut eingerichtete Campground Calgary West unsere Bleibe. Für 42 Can$ pro Nacht, das sind knapp 30 Euro. Per Mail buchen wir von dort die Verschiffung unserer Leoni von Halifax nach Hamburg für den 17.10.2016.
Und dann kommt auf dem Campingplatz ein Unwetter über uns. Der Himmel wird rabenschwarz, es blitzt und donnert und schüttet wie aus Eimern. Und zwar stundenlang. Wir haben nach fast zwei Jahren mit Überschreitung der kanadischen Grenze die zumindest für uns so gut wie regenfreie Zone offenbar endgültig verlassen.
Am Eingang zum Banff National Park bittet man uns kräftig zur Kasse. Wir kaufen für 67,70 Can$ p.P. den Parks Canada Discovery Pass, der für zwei Jahre zum Eintritt in alle kanadischen National Parks und National Historic Sites berechtigt. Das ist relativ viel Geld, und wir hoffen, dass es gut angelegt ist. Nach einem Besuch im Visitor Center, einem kurzen Bummel durch die Stadt Banff und einem Mittagessen in einem indischen Restaurant fahren wir Richtung Icefields Parkway. Die Straße ist eine vierspurige Autobahn, links und rechts durch hohe Zäune eingegrenzt. Wohlgemerkt, wir sind mitten in einem Nationalpark. Immerhin gibt es alle paar Kilometer Grünbrücken, die den Tieren eine gewisse Bewegungsfreiheit ermöglichen.
Auf dem Mosquito Creek Campground checken wir ein und machen anschließend eine mehrstündige Wanderung im Gebiet des wunderschön gelegenen, nicht weit entfernten Bow Lake. Wenn man früh genug ankommt, so bis zur Mittagszeit, ist es offenbar auch in der Hochsaison kein Problem, einen Übernachtungsplatz zu bekommen. Das gilt nicht nur im Banff, sondern auch im nördlich anschließenden Jasper National Park. Man muss nur wissen, welche Plätze nach dem First-come-first-serve-Prinzip arbeiten und welche nur mit Vorreservierungen.
In der Nacht nervt uns unser Kühlschrank. Er brummt vor sich hin, dann stirbt das Brummen ab, und es gibt ein explosionsartiges Geräusch. Dies wiederholt sich in schneller Folge. Der Kühlschrank schaltet gar nicht mehr ab. An Schlafen ist bei dieser Geräuschkulisse nicht zu denken. Als es uns zu bunt wird, schalten wir den Kühlschrank aus. Ruhe kehrt ein, und wir können wieder schlafen. Das Gerät hat bisher sehr zuverlässig gearbeitet und uns auch in den heißesten Gegenden immer brav mit kaltem Bier versorgt, was ohne Frage enorm zu unserem leiblichen und seelischen Wohlbefinden beigetragen hat. Wahrscheinlich haben wir den Kühlschrank im Südwesten der USA bei den extremen Temperaturen dort überfordert. Die Kühlfunktion ist wie auch der Bedien-Komfort nicht ganz verloren gegangen, aber doch kräftig eingeschränkt. Leider liefert die Betriebsanleitung keine verwertbaren Hinweise, so dass wir wohl erst einmal mit der gegebenen Situation leben müssen. Gut, dass wir jetzt ohnehin Richtung Nordpol mit kühleren Temperaturen unterwegs sind. Ein Kühlschrank ist dort nicht mehr ganz so wichtig.
Der Icefields Parkway führt durch eine unvergleichlich schöne Landschaft und verbindet den Banff mit dem Jasper National Park. Die Straße ist nicht mehr vier-, sondern nur noch zweispurig und auch nicht mehr eingezäunt. Aber aus unserer Sicht völlig unsinnigerweise beträgt die zulässige Höchstgeschwindigkeit 90 km/h. Die Hälfte wäre vielleicht angemessen, um die vielfältige Tierwelt nicht unnötig zu gefährden. Ich wäre sehr an einer Statistik interessiert, die aufzeigt, wie viele Bären, Hirsche, Schafe, Ziegen, etc. pro Jahr in den beiden Nationalparks überfahren werden. Es sind sicher sehr viele.
Häufig gibt es unterwegs Haltepunkte mit besonders schönen Panoramen oder Startpunkten für kürzere oder längere Wanderungen. Wir haben uns im Visitor Center in Banff beraten lassen und wählen entsprechend aus. Der praktisch ausschließlich touristische Verkehr auf der Straße ist ziemlich beträchtlich. Am Icefield Centre, das schon im Jasper National Park liegt, wird der Andrang dann jedoch geradezu unbeschreiblich. Auffällig ist der extrem hohe Anteil asiatischer, vor allem chinesischer Touristen, die in der Regel in großen Omnibussen unterwegs sind. Ansonsten überwiegt der Individual-Verkehr. Etliche riesige US-amerikanische Wohnmobile mit angehängtem Zweitwagen sind vertreten. Die extrem camping-orientierten Kanadier bevorzugen dagegen kleine Pick-up-Camper mit absetzbarer Kabine, die wiederum in den USA kaum vorkommen.
Auf dem riesigen Parkplatzgelände vor dem Centre bekommt man nur mit Mühe einen Parkplatz. Und im Icefield Centre selbst stehen dann vor Essensausgaben, Ticketschaltern, Infoständen, etc. schier endlose Menschenschlangen, sogar auch vor der Herrentoilette, was nun wirklich ziemlich ungewöhnlich ist. Hier hilft nur noch eines: Eine schnelle Flucht, die wir unverzüglich und ohne schuldhaftes Verzögern ergreifen.
Der Athabasca-Gletscher, der unmittelbar vor dem Icefield Centre vom Columbia Icefield herabströmt, hat sich seit meinem ersten Besuch im Jahr 1985 extrem weit zurückgezogen. Ich kann es gar nicht glauben. Beton-Markierungen zeigen den markanten Rückgang überdeutlich auf. Wir laufen hoch bis in die Nähe der Gletscherzunge. Der Gletscher ist abgesperrt und darf nur mit Führer betreten werden. Etliche Male sind Besucher in den letzten Jahren in verdeckte Gletscherspalten gefallen und konnten in der Regel nur tot geborgen werden. Das hindert viele, vor allem asiatische Besucher aber nicht, die Absperrung souverän zu ignorieren. Kein Ranger ist anwesend, um dies zu unterbinden.
Auf dem weiteren Weg nach Jasper treffen wir in der Nähe einer bekannten Mineralsalz-Lecke auf eine 11-köpfige Mountain-Goat-Herde. Zunächst haben wir sie im Gelände am Steilhang des Athabasca Rivers ganz für uns alleine. Später, als die Ziegen-Herde zur Straße zieht, teilen wir sie mit vielen anhaltenden Autofahrern. Kurz darauf – wir sind wieder im Auto unterwegs – entdecken wir direkt neben der Straße einen Schwarzbären. Es ist unser erster kanadischer Bär. Den allerersten überhaupt hatten wir ja vor einigen Wochen im Yosemite National Park in Kalifornien gesehen. In unmittelbarer Nähe unseres Campingplatzes in Jasper finden wir dann am gleichen Tag am Straßenrand einen weiteren Schwarzbären vor. Für ein Foto reicht es in diesem Fall leider nicht.
Auf dem Yellowhead Highway verlassen wir Jasper in Richtung Westen. Die Straße ist nach einem französischen Trapper mit blonden Haaren benannt, der Tête Jaune genannt wurde. Dieser Name wurde 1:1 ins Englische übersetzt. Doch auch das französische Original lebt weiter, z.B. im Ortsnamen Tête Jaune Cache.
Nach einer Übernachtung am Fuße des Mt. Robson fahren wir weiter Richtung Westen und machen Halt am sogenannten Ancient Forest. Dort laufen wir 1,5 Stunden durch einen wirklich wunderschönen Zedernwald. Es ist ein echter Regenwald, der allerdings mit ca. 800 km erstaunlich weit vom Pazifik entfernt ist. Normalerweise liegen kalte Regenwälder unmittelbar an der feuchten Meeresküste, so in Süd-Chile und auch an der kanadischen Westküste.
Der Ancient Forest wurde erst vor knapp 10 Jahren von Privatleuten vor dem Abholzen gerettet und anschließend in reiner Freiwilligenarbeit mit aufwändigen Holzstegen versehen, auf denen wir uns jetzt fortbewegen. Ein ganz tolles Beispiel einer gelungenen Privat-Initiative. Es ist sehr erfreulich, dass dieser bemerkenswerte Wald erhalten werden konnte. Denn wer weiß, wie kanadische Forstwirtschaft funktioniert, dem ist klar, dass nicht ein Baum auf der gesamten Fläche übrig geblieben wäre. Alles wird gnadenlos platt gemacht. Wir sehen sehr viele Beispiele dafür. Oft bleiben drei Baumreihen direkt neben der Straße stehen, damit der Anblick für die Vorbeifahrenden nicht ganz so furchtbar ist. Die für das Logging freigegebene Fläche wird grundsätzlich komplett abgeräumt, die wirtschaftlich interessanten Bäume werden abtransportiert, der gewaltige „Rest“ zu großen Scheiterhaufen aufgetürmt und verbrannt. Es sind gruselige Bilder. Aber es ist ja genug Wald da. So die wohl vorherrschende Meinung.
Immerhin werden in British Columbia für jeden gefällten Baum zwei neue gepflanzt. Wir sprechen mit drei jungen Männern, die hier seit Jahren auf abgeholzten Flächen junge Bäume pflanzen. Sie bestätigen, dass nach ihrer Meinung in British Columbia zu viel Wald abgeholzt wird. Mehr als nachwachsen kann.
Die Fort St. James National Historic Site ist ein komplett restaurierter Handelsposten der Hudson Bay Company und den 60 km-Abstecher vom Yellowhead Highway auf jeden Fall wert. Im 19. Jahrhundert war Fort St. James von zentraler Bedeutung für ein sehr großes Einzugsgebiet. Alle Wege des damals dominierenden Pelzhandels führten hierhin.
Nirgendwo sonst in Kanada sind so viele originale Holzgebäude aus der großen Zeit des Pelzhandels restauriert und erhalten. Alle können besichtigt werden. Auch die Zusammenarbeit mit den Carrier First Nations (französisch Porteurs) wird im Visitor Center ausgiebig gewürdigt. Interessant ist, dass viele Beteiligte des Pelzhandels und auch die Manager der Station selbst keine reinrassigen Europäer, sondern vielmehr nach einem französischen Begriff sogenannte Metís waren. In Lateinamerika hätte man Mestizen gesagt. Überhaupt lief das Zusammenleben zwischen Europäern und Indianern in West-Kanada wesentlich harmonischer und friedlicher ab als weiter südlich in den USA.
In den restaurierten Gebäuden von Fort St. James ist das Leben Ende des 19. Jahrhunderts dargestellt. In der Tracht der Zeit gewandete Interpreten erklären, wie das Leben damals funktionierte. Im Lagergebäude hängen die Felle aller in der Gegend vorkommenden Pelztiere von der Decke, vom kleinen Hermelin bis zum riesigen Grizzly. Es ist irgendwie erschreckend, eine solche Menge von Pelzen in einem einzigen Raum zu sehen. Die Nachfrage der Modeindustrie in Europa war damals gewaltig, und es wurde beständig Nachschub verlangt.
Im Verkaufsraum des Handelspostens sind die Dinge aufgetürmt, die für die Jäger und Trapper von Interesse waren. Eiserne Fallen, Eimer, Töpfe, Schneeschuhe, Säcke mit Reis, aber auch Zigarren, Cognac und alles, was das Leben angenehmer machte. Biberfelle waren die gängige Währung. Die Preise sind folgerichtig in Biberfellen ausgezeichnet. Ein Kochtopf mit Deckel kostete beispielsweise genau wie ein Paar geflochtene Schneeschuhe vier Biberfelle.
In einem kleinen Gebäude am Rand der Anlage hängen getrockneter Lachs und getrockneter Schinken von der Decke. Vor allem der getrocknete Lachs hatte damals entscheidende Bedeutung. Er war für viele Monate die Hauptnahrung, sowohl für die Trapper als auch für die Bewohner der Station. Davon musste ausreichend viel gehortet werden, um die langen Winter zu überstehen.
Ungefähr dort, wo der Cassiar Highway nach Norden vom Yellowhead Highway abzweigt, liegt `Ksan Village, ein restauriertes traditionelles Dorf des Gitxsan-Volkes. Erst sehr spät, gegen 1870, kamen die Gitxsan mit Europäern in Kontakt. Sie konnten deshalb nach eigener Aussage ihre Kultur weitgehend erhalten.
Schon bei der Annäherung an ´Ksan Village sind die ersten imposanten Totempfähle zu bewundern. Wie wir kurz darauf erfahren, haben Totempfähle nichts mit Religion zu tun. Vielmehr erzählen sie eine Geschichte und werden zu besonderen Gelegenheiten oder zu Ehren einer hochrangigen Person errichtet. Gelesen werden sie von unten nach oben. Die wichtigste Darstellung ist nicht, wie man vermuten könnte, die ganz oben, sondern die ganz unten.
Außer den Versammlungshäusern der vier Clans Adler, Feuerkraut, Wolf und Frosch besteht das Dorf aus einem Museumsgebäude, einer Werkstatt und einem Studio. Die Clanhäuser Frosch, Wolf und Feuerkraut können im Rahmen einer individuellen und mit 15 Can$ p.P. sehr preiswerten Führung besichtigt werden. Leider ist innerhalb der Gebäude das Fotografieren verboten. Die drei von uns besuchten Clan-Häuser sind gefüllt mit Dingen des alltäglichen Lebens und vor allem auch Masken und Kostümen, die auch heute noch bei Ritualen, jedoch auch bei für Touristen veranstalteten Tänzen verwendet werden. Die zum Teil mehrere Wochen dauernden traditionellen Feste der Gitxsan wurden 1884 von der Regierung verboten, aber heimlich weitergefeiert und erst 1951 wieder erlaubt. In einer perfekt gestalteten Audiovorführung erfahren wir die Hintergründe der jeweiligen Clanhäuser und auch die Bedeutung der vorhandenen Gegenstände, und zwar in perfektem Deutsch. Das Ganze ist hochprofessionell gemacht und sehr eindrucksvoll.
Unmittelbar an der Junction von Yellowhead und Cassiar Highway liegt der kleine Ort Gitwangak mit seiner St. Pauls Anglican Church und dem daneben stehenden Glockenturm von 1893. Hundert Meter weiter steht eine ganze Reihe alter, verblichener Totempfähle. Deutlich mehr und auch besser erhaltene Totempfähle mit zum Teil noch bunter Bemalung finden wir dann gut 20 km weiter nördlich in Gitanyow. Beides sind Dörfer der Gitxsan.
Nach zwei erholsamen Tagen am Mediazin Lake verlassen wir den Cassiar Highway und fahren nach Steward, kaufen dort im Supermarkt ein und fahren weiter zur nahen Grenze. Wir wollen nach Hyder, Alaska, das unmittelbar hinter der Grenze liegt und auf dem Landweg nur über das kanadische Steward erreichbar ist. Hier gibt es von Mitte Juli bis Anfang September die Chance, Grizzlies zu beobachten, die im Fish Creek kurz hinter dem Ort im flachen Wasser heraufziehende Lachse fangen.
Die US-Seite der Grenze ist gar nicht besetzt, die kanadische nur in Gegenrichtung. Wir fahren einfach durch und sind in Hyder, Alaska, Einwohnerzahl 100. Somit haben wir unser Panamericana-Hauptziel Alaska erreicht, wenn auch zunächst einmal nur den südlichsten Zipfel des sogenannten Panhandles. Der Fish Creek liegt im Tongass National Forest, und um die Touristen vor den Bären zu schützen, wurden lange hölzerne Beobachtungsstege parallel zum Fluss gebaut. Es ist der 13. Juli, was man ja durchaus als Mitte Juli durchgehen lassen kann. Vielleicht sind die Lachse pünktlich. Wir kommen in strömendem Regen an und machen uns mit der Umgebung vertraut. Es ist kein einziger Tourist da, kein Lachs und auch kein Bär. Doch ein Ranger erzählt uns, dass vor drei Tagen ein Grizzly zwei erste Lachse aus dem Fluss geholt hätte. Außerdem würden die Lachse gerne nach einem ausgiebigen Regen in ihr Laichgebiet hochschwimmen. Vielleicht weil sie dann mehr Wasser unter dem Kiel haben. Wie auch immer.
Wir hoffen auf ein Ende des Regens und entscheiden uns, erst einmal zum Salmon Glacier hoch zu fahren. Dieser liegt auf kanadischem Gebiet, ist aber nur über Hyder zu erreichen. Der Salmon Glacier ist der fünftgrößte nordamerikanische Gletscher und der größte kanadische, der mit dem Auto erreichbar ist. An der Piste steht nach ein paar Kilometern ein relativ unauffälliges Schild mit der Aufschrift „Welcome to British Columbia“. Mehr ist von der Grenze nicht festzustellen. Während wir die Premier Gold Mine passieren, wird die Sicht immer schlechter. Nebel und Regen beherrschen das Geschehen. Nach gut 30 km oben am Viewpoint auf gut 1.100 m Höhe angekommen ist die Sicht dann gleich Null. Ein paar wenige Touristen sind anwesend sowie ein alter Herr, der sich selbst Bear Man nennt und Postkarten sowie selbsterstellte Heftchen über Grizzlies, Lachse und den Salmon Glacier verkauft. Ich kaufe ihm eins der Heftchen ab, unterhalte mich ein bisschen mit ihm und habe in der Folge bei ihm einen Stein im Brett.
Hildegard kocht Mittagessen, und wir warten auf besseres Wetter. Irgendwann pocht der Bear Man an die Tür und fordert uns auf herauszukommen. Der Gletscher sei frei. Wir hatten dies noch gar nicht bemerkt. Fünf Minuten später haben die Wolken den Gletscher wieder verschluckt. Wir sind längst wieder in Leoni, als der Bear Man erneut an die Türe klopft. Er habe gerade die Nachricht bekommen, dass die Lachse im Fish Creek eingetroffen seien. Heute Abend gäbe es eine gute Chance, einen Bären zu sehen. Er würde deshalb jetzt sofort hinunterfahren. Wir zögern, denn eigentlich wollten wir am Salmon Glacier übernachten, um vielleicht doch noch zu guten Fotos bei klarem Wetter zu kommen. Doch dann geben wir Lachsen und Grizzlies die Priorität und machen uns ebenfalls auf den Weg nach unten.
Am Fish Creek angekommen finden wir tatsächlich jede Menge Chum oder Dog Salmon genannte Lachse vor, eine von drei im Fish Creek laichenden Lachsarten. Die ersten fangen schon an, Laichgruben anzulegen. Vielleicht zwei Dutzend Touristen sind ebenfalls eingetroffen, genau wie der Bear Man. Und kurz nach unserer Ankunft erscheint dann tatsächlich wie gewünscht auch ein Grizzly. Nach mehreren erfolglosen Versuchen schnappt er sich einen Lachs und trägt ihn an Land. Sehr gut hörbar verspeist er seine Beute nur 6 – 7 m von uns entfernt, zu unserem Leidwesen aber unter einem dichten Busch direkt am Flussufer, für uns komplett unsichtbar. Wir sehen nur sich gelegentlich bewegende Zweige. Nach geraumer Zeit hat er sein Mahl beendet, versucht aber nicht etwa, einen weiteren Lachs zu fangen, sondern marschiert den Fluss hoch und verschwindet im Wald. Offenbar ist er für den Moment ausreichend gesättigt. Oder der Fisch hat ihm nicht geschmeckt. Vom Bear Man wissen wir, dass Chum Salmon nicht besonders tasty (= schmackhaft) ist. Doch diese Aussage war eigentlich auf Menschen gemünzt.
Nur vier Kilometer von der Beobachtungsplattform entfernt beziehen wir am Ufer des Salmon Rivers einen wilden und somit kostenlosen Übernachtungsplatz. Auch diesen guten Tipp hatten wir vom ortskundigen Bear Man bekommen. Mit dem Tagesverlauf sind wir insgesamt mehr als zufrieden. Besser hätte es eigentlich gar nicht kommen können. Jedenfalls haben wir mit dem 13. Juli genau den richtigen Tag für unseren Besuch ausgewählt. Perfektes Timing. Oder ganz einfach Glück gehabt.
Am nächsten Morgen stehen wir bereits um 4 Uhr auf. Um 5.20 Uhr sind wir auf der Beobachtungsplattform am Fish Creek. Eine Handvoll Touristen und auch der Bear Man sind bereits da. Dieser meint, heute Morgen würden wir bestimmt einen Grizzly sehen. Und tatsächlich taucht um 6.10 Uhr ein großer Grizzly auf, der mitten im Fluss marschierend auf uns zukommt. Er ist deutlich massiver und offenbar auch älter als der von gestern. Leider wird er von irgendetwas irritiert, vielleicht dem Geruch der ihn beobachtenden Menschen. Jedenfalls macht er noch vor der Plattform kehrt und läuft flussabwärts zurück. Ganz weit entfernt im Hintergrund kann man seine Jagdversuche erahnen, er ist offenbar auch erfolgreich, aber für eine vernünftige Beobachtung reicht es nicht mehr.
Wir bleiben insgesamt drei Stunden vor Ort, aber es passiert nicht mehr viel, so dass wir uns entscheiden, nach Kanada zurückzufahren. An der Grenze werden von den Kanadiern die Pässe kurz angeschaut, und es wird die uns schon bekannte Frage nach Waffen, Feuerholz und Alkohol gestellt. Das ist alles.
Entlang des Cassiar Highways hat die Regierung der Provinz British Columbia drei Provincial Parks ausgewiesen, die sich jeweils um einen großen See mit allen Wassersportmöglichkeiten gruppieren. Alle drei haben einen wunderschön gelegenen und außerordentlich gut gepflegten großen Campingplatz direkt am Seeufer. Die Stellplatzkosten betragen einheitlich erstaunlich geringe 20 Can$ pro Nacht. Den ersten Campingplatz am Meziadin Lake hatten wir ja schon vor dem Abstecher nach Hyder besucht, und die beiden anderen weiter nördlich gelegenen am Kinaskan Lake und am Boya Lake fahren wir jetzt ebenfalls an.
Vor allem der traumhaft schön zwischen den Bergen eingebettete Boya Lake gefällt uns außerordentlich gut. Hier bleiben wir zwei Tage hängen. Im Gegensatz zu den beiden anderen Seen ist der Boya Lake sehr flach, was sich äußerst positiv auf die Wassertemperatur auswirkt. Das Schwimmen macht hier bedeutend mehr Spaß. Schon vor dem Frühstück sind wir im türkisfarbenen, absolut klaren und vergleichsweise warmen Wasser. Es ist ein absoluter Hochgenuss.
Nicht nur im, sondern auch auf dem Wasser sind wir unterwegs, und zwar mit einem geliehenen Kanu. Sobald wir das Campingplatzgelände hinter uns gelassen haben, sind wir absolut allein. Der Boya Lake hat eine äußerst komplizierte Form mit einem sehr unübersichtlichen Uferverlauf, und wir müssen aufpassen, dass wir in dem Gewirr der Inseln und Buchten nicht die Orientierung verlieren. Zum Glück helfen die Sonne und auch die markanten Berge im Hintergrund, die Richtung zu halten und zum Campingplatz zurückzufinden.
Im Park sind auch einige schöne Wanderwege eingerichtet. Einer von diesen führt zu einem Biberdamm, und zwar zu dem mit Abstand eindrucksvollsten, den wir je gesehen haben. Der Biber hat einen Teil des Sees mit einem gut 10 m langen Damm abgetrennt und den Wasserspiegel eines riesigen See-Teils um mehr als einen Meter angehoben. Mit seinen scharfen Zähnen hat er in der Nähe des Damms sehr viele durchaus beachtlich dicke Bäume gefällt und deren Äste und Zweige in seinen Bau eingearbeitet. Diejenigen, die er übrig gelassen hat, stehen jetzt in tiefem Wasser. Der gesamte Anblick ist überaus erstaunlich. Noch nie haben wir so klar sehen können, dass der Biber außer dem Menschen tatsächlich das einzige Lebewesen ist, das seine Umwelt im makroskopischen Bereich selbst gestaltet.
Seit einigen Tagen gibt es am späten Nachmittag mit einiger Regelmäßigkeit kräftige Gewitter. Die damit einhergehenden Regenfälle treffen uns allerdings nicht immer, sondern kommen manchmal in einiger Entfernung runter. Wenn sie uns treffen, sind sie nur von kurzer Dauer, stören uns so gut wie gar nicht und sind schon kurze Zeit später wieder vergessen. Sie erinnern uns aber daran, dass wie schon erwähnt unsere ganz persönliche Trockenzeit vorbei ist. Viel relevanter für uns ist, dass die Tage immer länger werden. Nachts wird es kaum noch richtig dunkel. Wir sind inzwischen unmittelbar unterhalb des 60. Breitengrads, der die Grenze zum Yukon, zu den North West Territories und zu Nunavut darstellt, und damit schon ganz schön weit nördlich. Zwar sind wir noch nicht ganz im Bereich der Mitternachtssonne, aber wir nähern uns.
Das Yukon Territory ist deutlich größer als Deutschland, hat aber nur ganze 36.000 Einwohner, etwa so viel wie eine deutsche Kleinstadt. Unser erster Anlaufpunkt Watson Lake ist mit nur 1.500 Einwohnern nach Whitehorse mit 26.000 und Dawson City mit 1.900 bereits die drittgrößte Stadt. Watson Lake liegt am Alaska Highway, der mitten im 2. Weltkrieg aus militärischen Gründen als erste Straßenverbindung zwischen den Lower 48 und Alaska in nur 8 Monaten fertiggestellt wurde. Die Japaner hatten zu Kriegsbeginn einige Inseln der Aleuten besetzt, also amerikanisches Territorium. Die Amerikaner befürchteten als Nächstes eine Invasion von ganz Alaska und wollten den Nachschub dorthin auch auf dem Landweg ermöglichen.
Ein von Heimweh geplagter US-Soldat stellte dann 1942 während des Baus in Watson Lake ein Schild mit der Entfernung zu seinem Heimatort in Illinois auf. Hunderte und tausende durchreisende Soldaten und Touristen taten es ihm nach. Als ich 1985 zum ersten Mal hier war, bestand der Schilderwald noch aus etwa 5.000 Schildern und war durchaus bereits international bekannt. Inzwischen ist er auf annähernd 80.000 Schilder aller Art angewachsen, und die Stadt Watson Lake bemüht sich nach Kräften, das Wachstum weiter anzukurbeln. Denn Watson Lake ist der Schilderwald, und der Schilderwald ist Watson Lake. Somit ist die Vermarktung des Schilderwalds äußerst nützlich für die einheimische Tourismus-Industrie. Wir wollen diesen ehrenwerten Ansatz selbstverständlich nach Kräften unterstützen und nageln ein Reserve-Nummernschild von Leoni an einen freien Platz.
Der kleine Ort Teslin mit 450 Einwohnern, die überwiegend dem Indianerstamm der Tlingit angehören, liegt gut 250 km weiter westlich. Hart und Marilyn aus der Nähe von Toronto, die wir auf der Baja California kennengelernt haben, verbrachten hier mehrere Jahre ihres Lebens. Dies ist zwar schon eine Zeitlang her, doch man erinnert sich noch an sie, wie wir bei einem Test feststellen können. Die Beiden haben uns zu sich nach Hause eingeladen, und wir werden sie auf unserer Fahrt nach Halifax ganz sicher besuchen.
In Teslin überspannt die mit 584 m längste Brücke des Alaska Highways den Nisutlin River unmittelbar vor dessen Einmündung in den Teslin Lake. Darüber hinaus verfügt Teslin über zwei weitere sehr besuchenswerte Attraktionen, das Teslin Tlingit Heritage Centre mit einer Reihe von Totempfählen und einer interessanten Ausstellung von Gebrauchs- und Ritualgegenständen sowie die Yukon Wildlife Gallery im Yukon Motel. Hier sind praktisch alle wesentlichen Säugetiere und Vögel des Nordens ausgestopft und in sehr lebensnahen Posen dargestellt. Grizzlies sind genauso präsent wie Dall Sheep oder Moschusochsen. Am eindrucksvollsten finden wir die Präsentation eines großen Elchbullen, der von einem ganzen Wolfsrudel angegriffen wird.
Whitehorse, die Hauptstadt des Yukon, ist dann nach längerer Zeit wieder einmal eine Stadt mit allen Versorgungsmöglichkeiten. Im modernen und hervorragend ausgestatteten Visitor Center gibt es nicht nur ausgezeichnete Beratung und Hochglanz-Broschüren zu allen touristischen Highlights West-Kanadas und interessanterweise auch Alaskas, sondern vor allem auch ein starkes und stabiles Internet. Mehrmals kommen wir daher hierhin zurück.
Ständig trifft man draußen auf dem Parkplatz und auch drinnen andere Reisende, die mit Campern, Wohnmobilen oder auch mit dem Fahrrad unterwegs sind. Viele Deutsche sind darunter, und mit einigen ergeben sich lange und spannende Gespräche über die jeweiligen Reiserfahrungen. Einer davon ist Christian aus Soest, den wir hier seit dem südlichen Argentinien zum insgesamt fünften Mal auf unserer Reise treffen. Er ist diesbezüglich einsamer Rekordhalter.
Aber wir treiben uns in Whitehorse natürlich nicht nur im Yukon Visitor Information Centre herum. Denn die Stadt und ihre Umgebung haben einiges zu bieten. Eine der auffälligsten Sehenswürdigkeiten ist der am Ufer des Yukons als Museumsschiff platzierte Schaufelraddampfer S.S. Klondike, der jahrzehntelang die Versorgung von Dawson City weiter flussabwärts sicherstellte.
Die enge Schlucht des Miles Canyons oberhalb der Stadt mit den Stromschnellen, die an die Mähnen weißer Pferde – daher der Name Whitehorse – erinnerten, war für die Stampeder des Goldrauschs von 1898 ein schweres Hindernis. Einige verloren ihr Leben, als sie versuchten, hier mit ihren selbstgebauten Booten und Flößen auf dem Weg nach Dawson City und den Goldfeldern am Klondike hindurch zu fahren. Der Staudamm, der 1958 etwa 3 km vor Whitehorse gebaut wurde, hob dann den Wasserspiegel so weit an, dass von den Stromschnellen nicht mehr viel übrig blieb.
Um den Chinook- oder Königslachsen, die zum Laichen bereits 3.200 km den Yukon hinauf geschwommen sind, die Überwindung der Staustufe zu ermöglichen, wurde eine mehrere hundert Meter lange Fischleiter gebaut, die längste hölzerne Fischleiter der Welt. Als wir den Whitehorse Rapids Fishway am 20. Juli besuchen, sind die Lachse noch nicht da, und die von außen mit Glasfenstern versehenen Kammern bis auf zwei kleine, nur goldfischgroße Fische leer. Wir erfahren, dass die Lachse sich zurzeit noch ein gutes Stück flussabwärts befinden, wo sie kürzlich gesehen wurden. Letztes Jahr trafen sie am 27. Juli ein. Wir sind somit schlicht zu früh.
Auch den Takhini Hot Springs mit ihren Thermalbädern und dem Yukon Beringia Interpretive Center statten wir einen Besuch ab. Hier gibt es viele interessante alte Knochen zu besichtigen. In der letzten Eiszeit lag der Meeresspiegel mehr als 100 m niedriger als heute, und es existierte eine Landbrücke zwischen Sibirien und Alaska. Der nördliche Teil dieses nach der damals noch nicht existierenden Bering-Straße Beringia genannten Gebiets war wegen zu geringer Niederschläge eisfrei und Weidegebiet von großen Säugetieren wie dem Wollhaarmammut, dem Riesenfaultier, dem Amerikanischen Ur-Pferd, dem Vorläufer der heutigen Karibus, etc. Seit Jahren werden im Permafrost von Beringia immer wieder Überreste dieser Tierarten gefunden. Die Zusammenhänge sind im Yukon Beringia Interpretive Center hervorragend aufbereitet und werden anhand vieler Exponate veranschaulicht.
Am Abend vor der Weiterfahrt nach Skagway im Panhandle von Alaska besuchen wir die seit 47 Jahren erfolgreich laufende Show der Frantic Follies. Zentrales Element sind Can-Can-Tänzerinnen, aber es wird auch gesungen, es werden Sketche aufgeführt und Witze gemacht, alles in Kostümen der Goldrauschzeit von 1898. Wir verstehen zwar leider nicht alle Witze und Anspielungen, aber es ist ein lustiger und gelungener Abend.
Es gibt in Whitehorse auch eine Sache, die wir so noch nie erlebt haben und die uns ziemlich gestört hat. Die Supermarktkette Walmart erlaubt Wohnmobilfahrern an den meisten ihrer Standorte kostenloses Übernachten auf ihren Parkplätzen. Das liegt daran, dass der Walmart-Besitzer begeisterter RV-Fahrer ist oder zumindest in früheren Jahren war und sich ein Herz für diese Klientel bewahrt hat. Wir haben dieses Angebot bisher noch nicht genutzt, werden das aber sicher irgendwann einmal tun, wenn es in Ermangelung eines anderen Übernachtungsplatzes notwendig wird.
Als wir früh am Morgen in Whitehorse im Walmart einkaufen, ist der Parkplatz mit geschätzten 50 Wohnmobilen belegt, die hier übernachtet haben. Alles steht voller RVs und Camper. Wir stellen uns für die Zeit des Einkaufs dazu und können das, was wir sehen, nicht fassen. Hier wird ein großzügiges Angebot ganz offensichtlich ziemlich schamlos ausgenutzt. Denn hier liegt nicht der angenommene Fall zugrunde, dass kein sicherer Übernachtungsplatz in der näheren Umgebung zur Verfügung steht. In und um Whitehorse herum gibt es ein gutes halbes Dutzend RV- und Campingplätze, die für jemanden, der sich ein teures Wohnmobil leisten kann und damit in der Weltgeschichte herumfährt, auch erschwinglich sein sollten. Als ich beim Einchecken auf dem von uns gewählten Campingplatz erwähne, dass der größte RV-Park von Whitehorse ja wohl der Parkplatz von Walmart sein muss, stößt die Dame hinter der Theke nur ein „Yes, it´s ridiculous!“ hervor. Wir können ihr da nur zustimmen.
Nach einem kurzen Stopp in Carcross, das ursprünglich einmal Caribou Crossing hieß, erreichen wir auf dem Weg nach Skagway die Grenze von Alaska. Die Kanadier wollen gar nichts von uns, und die Amerikaner begnügen sich mit der Kontrolle der Reisepässe. Keine Frage nach mitgeführten Lebensmitteln, kein Check der Kabine, nichts. Uns soll es Recht sein.
Wir checken in Skagway für zwei Nächte auf einem von mehreren vorhandenen stadtnahen Campgrounds ein und sehen uns in der Stadt um. Skagway hat sich viel von seiner Wild-West-Atmosphäre erhalten. Viele Gebäude stammen noch aus dem Jahr 1898, als die Stadt während des Klondike-Goldrausches innerhalb weniger Monate aus dem Boden gestampft wurde. Zeitweise hatte Skagway zu dieser Zeit über 10.000 Einwohner. Heute sind es nur noch 1.000.
Die Stampeder sind damals entweder über Skagway und den White Pass nach Norden geströmt oder über das benachbarte Dyea und den Chilkoot Pass. An der Grenze auf der Passhöhe verlangten die kanadischen Behörden von jeder Person eine Tonne Ausrüstung. Diese Forderung war zum Schutz der Goldsucher wichtig, damit diese nicht im wilden Hinterland verhungerten. Es bedeutete aber auch, dass die Strecke von Skagway oder Dyea hoch zur Grenze von jedem Einzelnen 20 Mal oder sogar noch öfter zurückgelegt werden musste. Oben am Lindeman Lake wurden im Winter hunderte Boote und Flöße gebaut, die dann, sobald im Frühling das Eis aufbrach, ins Wasser gebracht wurden, um die Goldsucher den Yukon hinunter bis zu den Goldfeldern am Klondike bei Dawson City zu bringen. Unterwegs waren dann wie schon erwähnt im Miles Canyon kurz vor Whitehorse die Whitehorse Rapids und später weiter nördlich noch die Five Finger Rapids zu überwinden. Als die Stampeder, die all diese Gefahren und Strapazen erfolgreich hinter sich gebracht hatten, jedoch schließlich in Dawson City ankamen, mussten sie feststellen, dass die ertragreichen Claims längst vergeben waren. Fast alle waren zu spät gekommen. Reich geworden sind nur die Wenigsten. Jack London hat ihre Geschichte kenntnisreich und äußerst lebendig beschrieben.
Als im Jahr 1900 die Eisenbahnverbindung über den White Pass fertiggestellt wurde, verlor Dyea seine bisherige Bedeutung und wurde komplett aufgegeben. Heute nach nur knapp 120 Jahren ist von dieser Stadt mit damals immerhin auch über 8.000 Einwohnern erstaunlicherweise absolut nichts mehr zu sehen.
Das Wetter war schon in Whitehorse nicht besonders gut. In Skagway verschlechtert es sich leider weiter. Wir haben uns vorgenommen, zwei Nächte in der Stadt zu bleiben und dann mit der Fähre des Alaska Marine Highways nach Haines weiterzureisen. Zu unserer völligen Überraschung erfahren wir dann freitagnachmittags im Hafen, dass dies erst in der Folgewoche donnerstags möglich ist. Ich kenne das von früher und auch aus aktuellen Reiseführern noch so, dass jeden Tag eine Fähre geht und Reservierungen auch in der Hochsaison nicht einmal für den gleichen Tag nötig sind. Man erklärt uns jedoch, dass der Fährbetrieb in diesem Jahr aus Kostengründen stark eingeschränkt wurde. Die verbleibenden Schiffe sind folglich früh ausgebucht. Da wir nicht bereit sind, fast eine Woche zu warten, beschließen wir, Richtung Whitehorse zurückzufahren.
Haines ist von Skagway aus auf dem Landweg nicht direkt zu erreichen. Der Landweg würde vielmehr einen riesigen Umweg über Whitehorse und Haines Junction erzwingen. Schweren Herzens streichen wir Haines aus unserem Programm. Aber wir wollen wenigstens noch einen Ausflug mit einem Speedboat nach Juneau, zur Hauptstadt Alaskas, machen. Den haben wir schon wochenlang fest im Programm. Doch was passiert? Der nächste Tag ist ausgebucht, der übernächste auch, und die Wettervorhersage prognostiziert weiterhin schlechtes Wetter, auch für die Tage danach. Tagelang warten und dann den ganzen Tag im Regen ohne gute Sicht auf einem Ausflugsboot sitzen wollen wir nicht. Ergebnis der Überlegungen: Juneau wird ebenfalls gestrichen.
Bevor wir die Rückfahrt nach Kanada antreten, fahren wir noch zum Goldrush Cemetery von Skagway und besuchen die Gräber von „Soapy“ Smith und Frank Reid, die sich im Juli 1898 bei einem Duell gegenseitig erschossen haben. Frank Reid war der Gute und „Soapy“ Smith der Böse. Auf dem Grabstein des Helden Frank Reid steht: „He gave his life for the honor of Skagway“. Die Erinnerung an die 18-jährige Ella Wilson aus dem Rotlichtviertel, die im gleichen Jahr in Skagway unter ungeklärten Umständen erwürgt wurde, fiel dem Wortlaut nach ähnlich aus: „She gave her honor for the life of Skagway.“
Auf der amerikanischen Seite der Grenze fahren wir einfach durch. Eine Kontrolle hier ist nur bei der Einreise vorgesehen. Der kanadische Grenzer ein paar Kilometer weiter stellt die üblichen Fragen nach dem Woher und Wohin und ob wir Alkohol, Feuerholz oder Waffen dabei haben. Kontrolliert werden nur die Pässe, und wir brauchen wieder nicht auszusteigen.
In Whitehorse füllen wir den Kühlschrank wieder auf, in dem wegen des gerade absolvierten Grenzübertritts und möglicher Probleme mit dem Zoll gähnende Leere herrscht. Leider gelingt das Auffüllen nur unvollständig, denn es ist gerade Sonntag, und der Liquor Store hat geschlossen. Na ja, das kann passieren. Wir fahren weiter auf dem Alaska Highway gen Nordwesten bis kurz vor Haines Junction, wo wir auf dem Pine Lake Government Campground übernachten. Die Yukon Government Campgrounds sind über den ganzen Yukon verstreut, einfach, aber sehr zweckmäßig eingerichtet und kosten generell sehr überschaubare 12 Can$ pro Übernachtung, etwa 8,40 Euro.
Am nächsten Morgen steuern wir den Liquor Store von Haines Junction an, aber der hat nicht nur sonntags, sondern auch montags geschlossen. Damit sind wir so gut wie trocken gelegt, denn jetzt haben wir noch genau zwei Dosen Bier. Eine solche „Notsituation“ haben wir bisher auf der ganzen Reise noch nicht gehabt. Unser Bier- und Weinkeller ist nämlich normalerweise immer gut gefüllt.
Im wie in Whitehorse supermodernen Visitor Center von Haines Junction lassen wir uns ausführlich über den Kluane National Park beraten. Dies ist ein riesiger, größtenteils vergletscherter Nationalpark im äußersten Südwesten des Yukons. Hier befinden sich die höchsten Berge Kanadas. Deren Zugänglichkeit ist aber das große Problem. Zwar gibt es einige Wanderwege, aber diese befinden sich alle am äußeren Rand des Parks und erschließen mit Ausnahme einiger mehrtägiger Touren nicht das spektakuläre Innere. Das geht für den Durchschnittstouristen nur mit einem Sightseeing-Flug.
Wir fliegen vom Silver City Airstrip am Kluane Lake mit einer kleinen Maschine von Icefield Discovery Tours für eine Stunde in die Berge. Die Kosten betragen 250 Can$ p.P. Aber dieses Geld ist aus unserer Sicht hervorragend investiert. Denn es folgt ein Flug, der uns für immer unvergesslich bleiben wird. Tom, der junge neuseeländische Pilot, ist vor dem Abflug noch ziemlich skeptisch. Eine drastische Wetterverschlechterung oben in den Bergen sei im Gange, den Mount Logan, den höchsten Berg Kanadas, würden wir nicht zu sehen bekommen und eine Landung auf den Gletschern käme wegen der Wetterbedingungen ebenfalls nicht in Frage. Das ist uns aber alles ziemlich egal, denn wir wollen vor allem die riesigen Gletscher kennenlernen.
Außer uns ist nur noch ein weiterer Passagier mit an Bord. Wir fliegen ins Tal des Slim Rivers hinein und direkt auf den Kaskawulsh Glacier zu. Das von diesem Gletscher wegströmende Wasser hat vor ein paar Monaten seine Richtung geändert und fließt nun im Wesentlichen nicht mehr in den Kluane Lake, sondern über ein anderes Tal in eine ganz andere Richtung. Der riesige Kluane Lake hat als unmittelbare Folge wegen Wassermangels in kürzester Zeit seinen Wasserspiegel um mehr als einen Meter abgesenkt. Ein ganz erstaunliches Beispiel für einen dramatischen Wandel in der Natur.
Als wir den Kaskawulsh Glacier unter uns haben und über ihm hoch fliegen, kommen wir aus dem Staunen nicht mehr hinaus. Es ist einfach überwältigend. Von links und rechts fließen andere Gletscher in ihn hinein und erzeugen geradezu unglaubliche Panoramen. Die mittransportierten Gesteinsbrocken in den Seitenmoränen wirken auf uns wie Leitplanken riesiger Autobahnen. In Kurven ist das Eis an der Innenseite aufgewölbt, da der Gletscher von oben ohne Rücksicht auf den „Straßenverlauf“ kräftig weiterschiebt. Die so entstandenen Risse schimmern tiefblau, genau wie etliche Seen und Flüsse an der Gletscheroberfläche. Es sind farblich extreme Gegensätze.
Der Kaskawulsh Glacier ist 5 km breit und nach unterschiedlichen Angaben 64 km bzw. 75 km lang. Die Dimensionen sind einfach gigantisch und kaum zu erfassen. Wir fliegen hoch bis zum hinter Wolken versteckten Eisfeld, wo der Gletscher entspringt und das wie das Hielo-Sur-Eisfeld in Argentinien und Chile als das größte Eisfeld außerhalb der Polargebiete verkauft wird. Was jetzt wirklich stimmt, wissen wir nicht, ist aber auch nicht ganz so wichtig.
Wir wenden, kommen dem Gletscher und den ihn begrenzenden Felsen dabei sehr nahe, fliegen den Kaskawulsh Glacier ein Stück zurück und biegen anschließend nach rechts in einen großen einmündenden Gletscher ein. Der Pilot behauptet, seines Wissens wäre noch nie ein Mensch zu Fuß in dieser Gegend gewesen. Die meisten Berggipfel und Gletscher hier hätten noch nicht einmal einen Namen.
Das Licht während unseres Fluges ist gut. Die Sonne bleibt weitgehend hinter Wolken verborgen, so dass es über dem Eis nicht zu viel gleißendes und blendendes Licht gibt, das die Sicht stark beeinträchtigen würde. Unser Pilot meint, wir hätten gerade noch einen letzten guten Time Slot erwischt. In den nächsten drei bis vier Tagen würde es wegen des Wetters wohl keine Flüge mehr geben. Uns ist das ziemlich egal. Als wir wieder gelandet sind, haben wir einige Mühe, das Gesehene zu verarbeiten. Es war wirklich eine geballte Ladung. Die Aufarbeitung der vielen, vielen auf dem Flug geschossenen Fotos am Abend hilft dann dabei, das Gesehene zu realisieren. Auf der Hitliste der Highlights unserer Reise steht der Kluane-Gletscherflug jedenfalls mit an der Spitze.
Natürlich sehen wir uns auch auf dem Boden im Kluane National Park um. Wir sind mehrere Tage in der Gegend und nutzen die verschiedenen wunderschönen Campingplätze im und knapp außerhalb des Parks. Aber die Wanderungen am Kathleen Lake und am Sheep Mountain, so interessant und aufschlussreich sie auch sein mögen, können nicht annähernd mithalten mit diesem unvergesslichen Flug.
Und vor unserer Weiterfahrt Richtung Beaver Creek und Grenze von „Mainland“-Alaska statten wir auch dem Liquor Store in Haines Junction noch einen Besuch ab. Ab dienstagmorgens um 10 Uhr hat er ja wieder geöffnet.
Liebe Thorens!
Nachdem wir auch gerade auf einer Rundtour mit dem Auto durch den Westen Kanadas waren, haben wir diesen Bericht mit besonderem Interesse gelesen. Die Beschreibungen und Infos sind sehr zutreffend … und gut zu lesen. Und die Fotos sind wirklich toll, da sie „die Stimmung“ in dieser Region gut rüberbringen.
Weiterhin eine erlebnisreiche Reise – bei gutem Wetter und ohne Probleme mit Leoni!
Grüße aus dem deutschen Sommer (der jetzt wohl hier angekommen ist)
Andreas und Sabine Nobis
Hallo Leoni-Team,
einen Kommentar schreibe ich heute weniger bezüglich Eurer Reiseroute (die kennen wir ja schon von Irene und Wiffe), sondern vielmehr aufgrund des Kühlschrank-Zustandes in Leoni.
Ist der Kühlschrank erst mal leer, macht es keinen Unterschied, ob er kühlt oder nicht.
Das beste Bier ist jenes, welches man unter Beobachtung einiger hungriger Grizzlys zu den Lachsen in den Salmon River gestellt, und in letzter Sekunde vor einem neugierigen Schwarzbären gerettet hat.
Das schmeckt viel besser, als eins aus dem funktionierenden Kühlschrank.
Für Euer leibliches Wohlbefinden hoffe ich natürlich auch, dass im hohen Norden Alaskas immer ein Liquor Store geöffnet sein möge.
In diesem Sinne:
Prost, auf Euer Wohl.
Liebe Thorens,
wenn iher die 68 kanadischen Dollar für 2 Jahre schon viel findet, wartet mal bis ihr nach Südafrika kommt (sofern es euch da auch noch hinverschlägt). Die Wild Card für Ausländer kostet derzeit für Paare 3005 Rand (derzeit aufgrund des sehr günstigen Wechselkurses „nur“ 192€) und gilt für ein Jahr.
Ansonsten freue ich mich dass es euch gut geht und ihr eure Reise in vollen Zügen genießen könnt.
René
Hallo Hildegard und Franz,
Hab eure Berichte gelesen und fühlte mich wieder zurück versetzt in das Jahr 2015. Wenn ich die vielen Wolken u d die dicken Jacken auf den Bildern seh ist das Wetter auch nicht besser als bei uns.
Lasst es euch gut gehen und liebe Grüße aus dem Schwabenland…
Irene
Dear Hildegard and Franz
What a wonderful report! We are impressed by the rich and detailed information you included. Your description of the Kluane sightseeing flight was particularly impressive, creating the feeling that you had invited us along. We had often driven that scenic and narrow stretch of highway beside Kluane Lake, usually during the winter months, and often wondered what secrets the park sheltered. You cleared up the mystery most vividly, and we almost feel that we owe you $125 for half the cost of the flight.
Keep safe, you two, and continue to enjoy your travels. We look forward to your arrival in Waterloo, Ontario on your way to the east coast. Leoni still has many more kilometers ahead of her. May she „hang together“ and arrive in „one piece“. ¡Les deseamos viajes seguros y buena suerte!
Hart and Marilyn
(Sus amigos de Baja California, México)
Hallo Leoni Team,
leider habe ich dieses Mal keine Zeit, um den Roman von Franz komplett zu lesen.
Ich beschäftige mich derzeit mit dem neuen Internetauftritt der Stuttgarter Globetrotter.
Ihr könnt ja, W-LAN vorausgesetzt, mal reinschauen und Verbesserungsvorschläge machen (oder gleich Termine für einen Vortrag melden).
In den Suchmaschinen findet man die Adresse noch nicht:
http://stuttgarter-globetrotter.jimdo.com/
Gruß und weiterhin gute Reise
Bernd